Leseprobe Rosenweiß

Die Stadt im Meer

Rota saß in der Gondola, die Stelzen von sich gestreckt, dicht an Wite gepresst. Wie gerne wäre sie aufgestanden und hätte den reißenden Fahrtwind ihr Haar zerzausen lassen. Doch die Röcke ließen ihnen kaum Platz, bauschten sich um sie herum, dass sie sie festhalten mussten, damit der Wind sich nicht darunter fing und sie ins Meer stülpte. Allerdings hatten die Kleidgetüme nicht nur ihre problematischen Seiten. Rota war ungeahnt froh darüber, so viele Stofflagen zu tragen. Sobald der Bay hinter ihnen zurückblieb, fiel die Temperatur ab, so wie Juliano es vorhergesagt hatte. Schwerer als gewohnt war der Krempel trotzdem.
Der Petu stand hinten an der Apparatur, die die Gondola vorwärtsbewegte, und zog sie immer wieder auf, damit der Antrieb nicht verebbte. Ihre Mutter wäre davon fasziniert gewesen, wie eine kleine Kurbel und ein paar Umdrehungen so viel Energie freisetzen konnten.
Doch Rota hatte keine Augen für das Gefährt, auch wenn sie sich schon lange gewünscht hatte, mit der Gondola über das Meer zu brausen. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, auf die Stelle, wo Ren Ima erscheinen musste, die Stadt im Meer. Die ersten Schemen übersah sie im Dunst dennoch, oder vielleicht gerade weil sie so angestrengt starrte. Dann, ganz plötzlich, wie ein Geist, tauchten die Umrisse von Türmen auf. Rota überkam ein Gefühl, das sie nicht kannte. Ein Schauer überlief ihren Körper.
Je näher sie fuhren, umso mehr Einzelheiten waren auszumachen. Sie sah die Farben der Steinwände, erkannte, dass die Türme Häuser waren, riesig sowohl in ihrem Grundriss als auch in der Höhe. Sie konnte kaum die Dächer sehen. Die Gebäude standen einfach so im Wasser, in mehreren Reihen, Schulter an Schulter, als reichten sie bis zum Grund des Meeres. Zwischen ihnen lagen Cyanäle.
Gerade sah Rota die ersten Häuser noch auf sich zukommen, schon wurde sie von der Gebäudeschlucht verschluckt. Sie schnappte nach Luft, fühlte sich winzig zwischen den Steinriesen. Um nicht umzufallen, blickte sie auf die Flügel der Gondola, die Juliano schnurrend einholte. Er drosselte das Tempo, sodass sie beinahe lautlos einfuhren. Die Welle, die sie vor sich hergeschoben hatten, ebbte ab. Die salzige Seeluft verwehte, machte einem anderen Geruch Platz. Doch es war nicht der erdige Duft des Bay, den Rota aus irgendeinem Grund erwartet hatte. Vielleicht, weil sie ihn mit von Menschen bewohnten Gebieten verband. Es roch muffig, fast wie vergammelter Maza.
Da stieß Wite ihre Schwester mit dem Ellenbogen und zeigte auf die Maske, die Rota noch in der Hand hielt. Wite trug ihre bereits. Ein wenig erschrocken zog Rota die eigene hastig über, kontrollierte, ob ihre Rocksäume die Stelzen verdeckten. Dann wagte sie, wieder hoch zu den Häusern zu blicken. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie diese Art von Ehrfurcht verspürte. Sie konnte kaum alles in sich aufnehmen, was es zu sehen gab, dabei hatte sie gerade mal die ersten Blicke riskiert. Doch alleine die Architektur von Ren Ima war so fremd und anders als die Hütten im Sumpf. Stein, nicht Holz, was in der Realität noch massiver wirkte als in Rotas Vorstellung. Die schiere Größe der Häuser und auch ihrer Fenster, in denen überall eine durchsichtige Oberfläche glänzte, war erdrückend und gleichzeitig bewundernswert. Das Geräusch der Wellen an den Wänden glich dem, was das Meer an der Küstenmauer der Bhagaruma Lief machte. Überall kamen Treppen aus dem Wasser empor, als wären sie dafür gemacht, dass die Maza herausspazieren konnten. Und wie riesige Grotten hatten die Gebäude auf Wasserhöhe Zimmer, denen eine Wand fehlte, in die Gondolas direkt hineinfahren konnten, um an weitere Treppen zu gelangen.
Gerade als sich Rota an den Anblick der Steingiganten gewöhnt hatte, die den breiten Cyanal säumten, bog Juliano ab. Die Gondola schwenkte in einen schmalen Seitenarm. Die Wände der Häuser standen so eng, dass Rota sie zu beiden Seiten gleichzeitig hätte berühren können. Doch sie wagte nicht, ihre Finger auszustrecken, machte sich ganz klein, in der Hoffnung, sich dann nicht so erdrückt zu fühlen. Jetzt hatte sie ein Gefühl dafür, wie es Juliano im Bay erging. Ihre Ahnung davon war zuvor nur eine schwache Idee der echten Emotion gewesen.
Der Petu führte die Gondola sanft durch das ruhige Wasser. Rota bemerkte, dass der strenge Geruch nach Exkrementen und verfaulenden Lebensmitteln zunahm. Sie beugte sich über die Reling. Genau in dem Moment wichen die Hauswände ein Stück zurück. Ein schmaler Gehweg tauchte wie aus dem Nichts auf. Rota blickte den Cyanal entlang. In einiger Entfernung erspähte sie eine kleine, verschnörkelte Lief.
„Hier steigen wir aus“, sagte Juliano.
Alleine die Vorstellung, gleich einen Fuß aus der Gondola auf den Stein von Ren Ima zu setzen, ließ Rotas Herz schneller schlagen. Sie blickte zu ihrer Schwester, in der Hoffnung, die Aufregung mit ihr teilen zu können, doch Wite erschien so gelassen wie immer. Juliano war Rotas Empfindungen näher. Obwohl dies seine Stadt und er schon mehrfach mit Wite hier unterwegs gewesen war, schien es ihn in hektische Vorfreude zu versetzen, die beiden Hada gleich aussteigen zu lassen. Fragte er sich auch, was geschehen würde, wenn sie aufflogen? Was dachte er, das passieren konnte, wenn die Frauen als Hada enttarnt würden? Doch Entdeckung schien unwahrscheinlich. Sie hatten vereinbart, dass sie sich in einem abgelegenen Teil der Stadt umsehen würden. Das sollte für Rotas ersten Besuch genügen. Ihr war klar, dass das nicht für immer ausreichen würde, aber für den Anfang war es eine gute Idee. Juliano hatte sie ursprünglich direkt in sein Haus fahren wollen, durchaus ein Plan, um nicht entdeckt zu werden. Nur was sollte Rota dort sehen? Ein Haus von innen war nicht das, was sie erkunden wollte. Also hatte sie vehement abgelehnt.
„Ich komme doch nicht nach Ren Ima, um ein paar schöne Räume zu besichtigen. Ich will die Straßen sehen, die Bauwerke der Nivasi Drai.“
„Aber was ist, wenn wir anderen begegnen?“, hatte der Petu gefragt.
„Ach, jetzt machst du dir plötzlich Sorgen darum, aber Wite zu Kranken bringen, das geht.“
Sie war so beharrlich in dieser Frage geblieben, dass Juliano einsehen musste, dass er auf verlorenem Posten stand. Natürlich wollte auch Rota so wenigen Petu wie möglich begegnen. Aber nicht um den Preis, dafür gar nichts zu sehen. Sie wollte Ren Ima erleben, all ihre Geheimnisse und Winkel ergründen. Nun ja, zumindest ein paar.
Juliano band die Gondola mit einem Strick an einem Eisenring fest, der an der Seite des Gehweges knapp über dem Wasser hing. Dann stieg er aus und reichte den Hadafrauen nacheinander die Hände, um ihnen hinauszuhelfen. Kurz waren die Stelzen beim Aussteigen zu sehen. Doch da hier niemand außer ihnen war, machte das nichts. Als erwarte Rota, vom Blitz getroffen zu werden, sobald sie den ersten Stock auf das Pflaster setzte, trat sie vorsichtig auf. Keine Wände stürzten zusammen, kein Sturm brach aus, die Erde bebte nicht. Da Rota das Gefühl hatte, nicht alles sehen zu können, rückte sie ihre Maske zurecht, doch dadurch wurden die Aussparungen für die Augen auch nicht größer. Umständlich drehte sie sich, um Juliano anzublicken. Was nun?
Einen Moment lang zögerte der Petu, als wäre er sich nicht sicher, ob er diese Invasion Ren Imas wirklich durchziehen wollte. Dann ging er los, die Frauen hinter ihm, da der Weg nicht breit genug war. Die Schritte mit den Stelzen klangen viel lauter auf dem Stein als auf den Stegen im Bay. Der Widerhall zwischen den Wänden erschreckte Rota.
Als sie um die Ecke bogen, eröffnete sich ihnen die Welt. Zumindest fühlte es sich für Rota so an, die sich in der Gasse eingeengt vorgekommen war. Ein Platz direkt am Cyanal erstreckte sich vor ihnen. In der Mitte stand eine große Statue, nicht so hoch wie die Häuser in der Ferne, dennoch kolossal. Zuerst blieben sie an der Ecke stehen, im Schatten der Gasse. Juliano wagte sich als Erster hinaus, schien sich wenig Sorgen zu machen, gesehen zu werden. Auch seine Schritte waren laut, da die hölzernen Absätze klapperten, aber leiser als die Stelzen. Rota fragte sich, ob dem Petu der Unterschied auffallen würde.
„Hier ist wirklich nie jemand“, bestärkte Juliano die Frauen, als ihm keine von beiden nachkam.
Rota versuchte, hinter der Maske hervor ihre Umgebung wahrzunehmen, während Wite auf den Platz schritt. Auch als sie aus der Gasse trat, der Platz sich gänzlich öffnete, sah sie nur Ausschnitte. Weit und breit war nichts außer ihren Schritten zu hören. Das verlieh der Stadt nur noch mehr nostalgische Mystik. Rota war fasziniert. Mit offenem Mund betrachtete sie die Hauswände, die voller Verzierungen waren. Blumenmotive schienen aus dem Stein geschlagen, rankten sich in Girlanden um Fenster und Türen.
„Wie nennt ihr das?“ Sie zeigte auf die Wände.
Juliano legte seine Hände hinter dem Rücken zusammen, betrachtete die Häuser eine Weile, als müsse er nachdenken. Er gefiel sich scheinbar darin, dieses Mal der Wissende und nicht der Fragende zu sein. „Das ist Stuck, Friese und dergleichen.“
„Weil ihr hier keine Pflanzen habt?“
Er lachte, runzelte gleichzeitig die Stirn. Wites Ruf verhinderte, dass sie näher auf den Sinn von Rotas Frage eingingen. Sie stand bei der Statue, frei auf dem Platz und sah zu einem Durchgang auf der anderen Seite. Eine Gestalt war dort erschienen. Eine Frau, wenn Rota Julianos Aussagen zu Geschlechterrollen der Petu richtig verstanden hatte, denn sie trug weite Röcke. Wieder einmal fragte sie sich, ob es bei den Petu keine Geweinari gab oder sich diese nur versteckten, um nicht von Krisco geschlagen zu werden.
Die Fremde näherte sich ihnen. Ihre Bewegungen waren nicht zögerlich, fast so, als hätte sie damit gerechnet, hier Leute zu treffen. Rota wollte schon zurückweichen.
Juliano aber klatschte freudig in die Hände. „Velia, sie hat es tatsächlich geschafft.“
Erleichterung durchflutete Rota, als sie den Namen hörte. Velia war seine Schwester, so viel wusste sie. Was genau ihr allerdings gelungen war, konnte sie nicht sagen. Sie schien außer ihren ausladenden Kleidern nichts bei sich zu tragen. Genau wie ihr Bruder war sie schlank und groß. Ihre Arme erschienen wie Stöcke. Ob sie eine Perücke trug oder ihr eigenes Haar kunstvoll aufgetürmt hatte, konnte Rota nicht sagen. In jedem Fall wurde ihr bewusst, wie schlicht die Kleider, die Wite und sie trugen, im Vergleich zu dem waren, was Velia anhatte. Es war übersät mit Stickereien, Perlen, Rüschen und anderen Verzierungen. Der Stoff der Ärmel und auch des Rocks war kunstvoll drapiert, sodass Falten dem Kleid eine komplizierte Form gaben.
Velia kam erst forsch näher, schien sich zu beeilen, doch dann wurde sie langsamer, zögerte schüchtern, als sie Rota bei ihrem Bruder sah.
Er winkte ihr zu, ermunterte sie näher zu kommen, kam ihr entgegen. „Velia, ich will dir Rota vorstellen.“
Die junge Petu hielt bei Wite inne, nahm santischaftlich ihre Hände, drückte sie kurz. Sie lächelte dankbar. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu, kam langsam näher.
Rota nahm die Maske ab, damit sie ihr Gesicht sehen konnte. Velias Augenbrauen gingen ein Stück hoch, doch sie hielt nicht inne, bis sie Rota erreicht hatte.
„Hallo.“ Ihre Stimme war lieblich, viel heller und klarer als die von Rota. Ihr Gesicht war offen, sie hatte das gleiche kantige Kinn wie ihr Bruder und genauso dunkle Augen. Ihr Teint war von einem schönen Braun, heller als die Haut von Rota, sogar heller als die ihres Bruders. War Julianos Haut bei ihrer ersten Begegnung auch so hell gewesen wie die seiner Schwester? Rota glaubte nicht, sie hatte schon immer eine goldbeige Note gehabt. Oder war sie jetzt doch dunkler als früher, durch die vielen Stunden an der Sonne im Bay? Doch da der Hautton der Hada allgemein ein wenig dunkler war, als der des Petu jemals gewesen sein könnte, war er ihr damals auch hell vorgekommen.
„Ado, Velia.“
Die Petu schlug entzückt die Hände vor den Mund. „Was für ein drolliger Sprachrhythmus.“
Da Rota Julianos Sprechweise schon oft gehört hatte, kam ihr Velias Aussprache nicht gar so seltsam vor wie ihr wohl Rotas. Wite sprach nie viel, sodass sich die Petu bei den wenigen Krankenbesuchen daran nicht hatte gewöhnen können.
„Das ist so aufregend, Bruder.“ Die Petu musterte Rota. „Mit den Stelzen seid ihr wirklich so groß wie wir.“
Sie zückte einen Stab, den sie gekonnt mit einer Bewegung aus dem Handgelenk entfaltete, ein Fächer, wie Rota erkannte, bemalt und bestickt wie scheinbar alles in Ren Ima. Die Petu fächelte sich Luft zu, als wäre es hier so heiß wie im Bay. „Gut, dass die Ärmel so lang und weit sind, da fallen die kürzeren Arme nicht so auf.“
Velias Art war doch sehr anders als die ihres Bruders, fiel Rota auf, direkter, detailgenauer. Es schien auch einen Unterschied zu machen, ob die Unterhaltung im Bay oder in der Stadt geführt wurde. Die Fremdartigkeit der besuchenden Person verfremdete den Umgang, machte ihn oberflächlicher, oder bildete Rota sich das nur ein? War es ihre eigene Unsicherheit in der fremden Umgebung, die ihr Anmerkungen spitzer erscheinen ließ? Wie ein Kiesel in der Dale. Hatte Juliano sich auch bei jeder Bemerkung über Unterschiede im Bay wie unter Beobachtung gefühlt?
„Ich habe so viele Fragen“, sagte Velia in einem Tonfall, den Rota von sich selbst kannte. Unbändige Neugier auf die Fremde. Das, was Bagara als gefährliche Sehnsucht nach der Ferne beschrieben hatte. Doch Rota spürte daran nichts Gehässiges. Es war nicht das Überfüllen eines Gefäßes, sondern das Vergrößern, sodass mehr hineinpasste.
„Ich auch“, gestand Rota. Die beiden Frauen lächelten sich zurückhaltend an. Dann bot Velia Rota den Arm. Die Hada wusste erst gar nicht, was die Petu von ihr wollte. Im Bay schlenderten die Leute nicht herum, um sich zu unterhalten. Das taten sie nebenher, die Hände meist mit einer nützlichen Arbeit beschäftigt. Velia nahm vorsichtig den Arm der Hada und legte ihn in ihre Armbeuge, damit sie gemeinsam über den Platz flanieren konnten, wie sie es zur Konversation wohl gewohnt war.
„Lass die Maske ruhig unten. Sollte jemand kommen, sehen wir ihn schon von Weitem und du hast Zeit, sie aufzusetzen. Aber wenn wir reden, möchte ich so gerne dein Gesicht sehen. Unglaublich, wie ähnlich wir einander sind, abgesehen von der Größe.“
Rota drehte die Maske in der Hand. „Ich bin froh, sie nicht zu tragen. Dahinter kann ich kaum etwas sehen.“ Und sehen wollte Rota, noch viel mehr als nur diesen leeren Platz.
Velia kicherte, als hätte sie einen fabelhaften Scherz erzählt oder einfach nur des Kicherns wegen. Rota kam es so vor, als wäre es entweder Sitte, bei Gesprächen zu kichern, oder Velias Charakter. Vielleicht lachte sie schlichtweg gerne.
Sie gingen an Wite vorbei, der es nichts ausmachte, nur still vor sich hinzugucken. Sie dachte wahrscheinlich über Kranke und Verletzte nach, Medizin, Pflanzen und ihre Nutzung. Darum kreisten ihre Gedanken eigentlich immer. Die Maske hatte Wite nicht abgenommen. Offenbar störte sie die eingeschränkte Sicht nicht.
Rota hingegen war gefangen vom Anblick der Stadt, wollte alles ungehindert sehen. Sie bemerkte Rinnen, die über den Platz verliefen, teils im Boden, teils erhoben. Wasser lief durch sie hindurch. Velia schlug eine andere Richtung ein. Sie zog ein paar Kreise um die Statue. Die Hada hatten solche Wahrzeichen nicht, doch Rota kannte ihre Bedeutung, hatte davon in Aufzeichnungen in den Büchern der Niambo gelesen. Sie sollten die Erinnerung an Menschen wachhalten, ihre großen Taten. Die Nivasi Drai schlossen furchtbar gerne Erinnerungen in Stein ein, wenn die Überlieferungen stimmten. Vielleicht war Ren Ima deshalb vollständig daraus.
Die Hada hielten Erinnerungen auch fest, aber nicht durch Steine mit Gesichtern, sondern durch Geschichten. Und diese überdauerten nur so lange, wie sie für jemanden Bedeutung hatten. Sie erzählten einander von ihren Santi und Povari, von allen. Große Taten waren für sie das Leben selbst, keine Namen. Und das existierte weiter, egal in welcher Form, voneinander berührt.
Der Stein stellte einen Mann auf einem vierbeinigen Tier dar. So ein Wesen hatte Rota noch nie gesehen. Es hatte ein langes Gesicht. Der Mann wirkte nicht so dürr wie die Petu, hatte einen vollen Bart und ganz seltsame Kleidung, selbst für das Stadtvolk.
„Wer ist er?“ Rota löste sich von Velia, berührte vorsichtig den Stein. Er war kalt, wie zu erwarten. Doch er erschien nicht so leblos, wie Rota gedacht hatte. Sie fühlte so etwas wie ein leises Summen, als sänge jemand weit entfernt. Hatten die Petu vielleicht tatsächlich etwas Leben eingeschlossen? Oder war es das Wesen des Steins selbst? Gehässiges konnte Rota jedenfalls nicht spüren.
„Das ist einer der Gründer von Seren Issima.“ Velia beugte sich über den Sockel der Figur, um liebevoll mit den Fingerspitzen über ein Schild zu streichen.
Als Rota genauer hinsah, entdeckte sie eine verblasste Gravur darauf. Sie war nicht zu entziffern.
„Hier stand sein Name, aber niemand weiß mehr, wie er hieß. Über ihn ist nichts mehr bekannt.“ Velia sah traurig aus. Doch Rota hatte bei ihrem Ausdruck ein seltsames Gefühl. Als trüge die andere Frau eine Maske, unsichtbar darunter ihr wahres Gesicht. Eine eigenartige Vorstellung. Ihr war nicht klar, wieso jemand Emotionen anziehen sollte wie Kleidung. „Er ist vergessen, so wie dieser ganze Teil der Stadt.“
„Nichts ist je vergessen“, sagte Rota, weil sie das Gefühl hatte, etwas Tröstliches sagen zu müssen. Auch wenn sie die Trauer nicht verstand. Leben war ewig, es kam und ging nicht wie der Wind. Es blieb, nur eben anders, manchmal nicht spürbar, manchmal an einem anderen Ort. „Es ist nicht schlimm, zu vergessen. Dieser Mensch hat seine Spuren hinterlassen, sein Leben gelebt, so lange es andauerte.“
Velia runzelte die Stirn, hob ihren Fächer, als wolle sie ihren Gesichtsausdruck dahinter verbergen. Doch Rota konnte sehen, dass sie ihre Worte nicht begriff. Für die Petu schien das Vergehen etwas Gehässiges zu sein, als solle es nicht dazu kommen.
„Es ist tragisch“, sagte die Petu. „So wie alles hier.“ Sie deutete auf die Gebäude. „Früher war ihr Anblick eine Pracht, jetzt verfallen sie langsam.“
Rota sah sich um, konnte aber nicht einschätzen, ob die Häuser in schlechtem Zustand waren. Das Salzwasser leckte am Stein, verfärbte ihn überall, wo es ihn berührte, fraß Stücke von ihm fort. Vielleicht blätterte die Farbe an den Wänden hier stärker ab als an einer anderen Stelle von Ren Ima. Eventuell waren die Dächer mit Löchern übersät. Von hier unten konnte sie es nicht sehen. In jedem Fall erweckten die Bauten nicht den Eindruck, vergessen zu verrotten.
Rota blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zu Juliano. „Leben hier Petu?“
„Die Servari kümmern sich darum, dass nicht alles verfällt. Aber Bewohner gibt es hier keine mehr.“
„Wie kommt das?“, wollte Rota wissen. Und wieso mühten sich die Petu ab, Gebäude zu erhalten, die niemand mehr brauchte? Wollten die Menschen, die hier gewohnt hatten, zurückkommen? Wo lebten sie jetzt?
Velia und Juliano warfen sich einen Blick zu, der nicht leicht zu deuten war. Die Geschichte der Petu und ihre Lebensumstände hielten mehr Geheimnisse bereit, als Rota gedacht hatte.
„Wir waren früher viel mehr.“ Velia blickte zur Statue hoch, den Fächer im Anschlag, jederzeit bereit, ihre Gefühle zu verbergen. Sie sah den steinernen Mann an, als gehöre er zu einer Gruppe von Verschollenen. Rota dachte an die Hada, die im Bay verschwanden, alle paar Oiezyklen ein oder zwei. Sie hinterließen Lücken in der Gemeinschaft. Doch diese Schilderung klang wie das Verschwinden ganzer Povar. Das konnte sie sich kaum vorstellen. Wohin waren sie verschwunden?
„Gab es eine Epidemie?“, fragte Wite pragmatisch. Auch die Hada hatten auf diese Weise viele Menschen auf einen Schlag schwinden sehen. Das war eine Möglichkeit. Vielleicht auch eine Flucht? Aber wovor sollten die Petu fliehen? Oder es hatte sie in die Ferne gezogen. Waren sie Forschende und suchten nach mehr Land?
Velia wirkte betroffen, unsicher, was sie sagen sollte. Es war, als wäre das Thema nicht nur belastend, sondern auch irgendwie anstößig. Rota dachte an Julianos innerliches Winden, als sie über die Schwangere gesprochen hatten, die Petufrau, deren Baby auch Wite nicht retten konnte. Hatte Juliano nicht davon gesprochen, dass in Ren Ima viele Babys starben?
„Nicht wirklich“, antwortete er. „Es ist eher so, dass immer seltener Petu geboren werden.“ Er strich sich über sein gepflegtes Bärtchen, wie so oft, wenn er beschämt war. „Die Menschen sind nicht plötzlich auf einen Schlag weg, wir werden einfach weniger.“
„Werdet ihr steril?“, platzte Wite heraus. Ihre wissenschaftliche Neugier war geweckt. Die beiden Petu runzelten die Stirn, konnten mit dem Begriff nichts anfangen. Nicht, dass sie entgegenkommender regiert hätten, wenn sie ihn verstehen könnten, dachte Rota bei sich. Sex, Nachkommenschaft und alles drum herum schien in Ren Ima ein Tabuthema.
Wite hielt es für bloße Unkenntnis, dass Juliano über diese Dinge einsilbig sprach. Deshalb scheute sie sich nicht, gleich zu erklären, was sie meinte. „Aus unterschiedlichen Gründen können die Samen der Männer …“
Kaum war der männliche Samen ins Licht gezerrt, bekam Juliano einen spontanen Hustenanfall. Er schien beinahe zu ersticken, wurde knallrot im Gesicht. Seine Schwester war nicht minder verlegen. Sie klopfte ihm geschwisterlich den Rücken, während ihre andere Hand ihren Fächer bediente.

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