Leseprobe Sonnengrün

Die Brücke

Es stürmte heftig, Agji brüllte durch den Bay und peitschte das Meer auf. Rota war zu dieser Zeit noch nie an der Bhagaruma Lief gewesen. Es war gefährlich an der Küste, wenn das Lowa wütete. Doch sie wollte dabei sein, wenn Sanrako die Bhagaruma Lief weckte, damit Juliano zu ihnen herübergelangen konnte. Es war herrlich dramatisch anzusehen, wie das Wasser an der Küstenmauer hochschlug, Wind und Regen die Luft grau zeichneten und sichtbar an ihr zerrten.
„Was für ein Spektakel.“
Rota kam mit Wite und Idis. Die Beziehung ihrer Schwester zu Sanrako brachte den Vorteil mit sich, dass sich niemand darüber wundern würde, wieso sie im Areal der Wateko unterwegs waren, sollte sich unerwartet jemand vor die Tür wagen. Die Fenster waren zwar verrammelt und die meisten Hada behielten ihre Nase bei diesem Wetter lieber in ihren Häusern, doch wer konnte schon ausschließen, dass nicht doch mal jemand rauskam.
Sie stellten sich wie eine zeremonielle Abordnung nebeneinander zwischen die Säulen, hinter denen die Bhagaruma Lief auftauchen würde. Sanrako ging zum rechten Pfeiler, musste sich gegen den Wind stemmen und achtgeben, nicht über den Rand der Mauer geblasen zu werden. Der Mechanismus lag über seinem Kopf, doch er musste nicht einmal hinsehen – was bei dem umherfetzenden Nunwasser auch schwierig war -, als er die erforderlichen Handgriffe tätigte.
Rota konnte ihn nur ungenau ausmachen bei der trüben Sicht. Sie blinzelte heftig gegen den Wind an. Durch den Lärm des Sturms verpasste sie die ersten Regungen der Bhagaruma Lief. Sie war schon fast ganz aufgetaucht, bis Rota die aufsteigenden Glieder entdeckte.
Idis stieß einen Laut des Entzückens aus. Sie war überglücklich, dass sie die Gelegenheit bekam, das Bauwerk zu sehen. Zuerst war sie skeptisch gewesen, als Rota ihr berichtete, es handle sich um kein Wesen. Von klein auf wuchsen die Hada in dem Glauben auf, die Bhagaruma Lief wäre so etwas wie die Manifestation Agiwes. Doch die Bhagaruma Lief war aus Stein und Metall, nicht aus Fleisch und Blut. Sie war von keinem Lowa bestiegen, funktionierte durch Mechanik. Und Mechanik war Idis’ Leidenschaft.
Ob Wite den Anblick genoss, war schwer zu sagen. Aber Rota ging davon aus, denn auch wenn ihre Schwester anderen Dingen zugetan war als den Hinterlassenschaften der Nivasi Drai, so war die Bhagaruma Lief eine beachtliche Erscheinung. Das Wasser stürzte von ihr hinab zurück in die gepeitschte See. Gischt spritzte an ihr empor.
„Und nun?“, fragte Idis.
„Wir warten.“ So hatte Rota es mit Juliano vereinbart. Sie hoben die Bhagaruma Lief um diese Zeit und er kam herüber. Niemand dürfte ihr Erscheinen bemerken, da niemand nach ihr sah oder sie erwartete. Auch in Ren Ima wütete Agji, ob die Petu an das Lowa glaubten oder nicht. Es war fast so, als würde es ihnen helfen, ihr Vorhaben vor aller Augen zu verbergen. Rota war nicht so vermessen zu glauben, das Lowa habe nichts Besseres zu tun, als Stürme heraufzubeschwören, damit sie das eine Sonnenwanderung zur Tarnung nutzen konnten, aber der Gedanke gefiel ihr dennoch.
Durchnässt und vom Wind geschubst harrten sie vor der Bhagaruma Lief aus. Es sah gefährlich aus, wie die Böen die Steinmauer überstiegen. Doch das würde Juliano bedenken, da war sich Rota sicher. Augenblick um Augenblick warteten sie, Sanrako hatte sich neben Wite gestellt, alle in gespannter Erwartung. Idis und der Wateko wahrscheinlich mehr als die Schwestern, denn sie hatten noch nie zuvor einen Petu gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Für sie war er eine bloße Idee.
Dann endlich war ein Schatten zu erkennen, eine Gestalt, die Rota erst für eine Sinnestäuschung im nadelfeinen Regenschleier hielt. Stück für Stück wurden die Umrisse größer, die Konturen klarer. Der Petu taumelte immer wieder zu Seite. Die Kraft von Wind und Wasser wirkten enorm, doch er schaffte es, nicht über die Brüstung gespült zu werden.
Da schrie Sanrako plötzlich auf. Eine große Welle fegte über die Bhagaruma Lief. Rotas Herz machte einen schmerzhaften Satz. Als sich die Flut auf der anderen Seite zurück ins Meer ergoss, erwartete sie eine leere Stelle vorzufinden, konnte sich einen Moment nichts anderes vorstellen. Dann entdeckte sie Juliano, zusammengesunken. Vom Gewicht des Wassers in die Knie gezwungen, hockte der Petu an der Randmauer. Noch nie in ihrem Leben hatte Rota so schwer aufgeatmet.
Mühsam kam Juliano wieder hoch, schleppte sich, offensichtlich unter Schmerzen, weiter. Als er nahe genug war, sah Rota, dass hinter ihm ein Seil zu den Metallstreben führte, auf denen die seltsamen Kisten fuhren. Sobald der Petu zwischen den Säulen stand, bückte er sich hinter sich und nahm den Strick ab. Am Ende baumelte ein ovaler Metallring, der an einer Stelle geöffnet werden konnte. Damit hatte er sich scheinbar eingeklinkt und hing gleichzeitig nicht fest. Bei Gelegenheit wollte Rota genauer erfahren, wo. Jetzt war es erst einmal wichtig, ins Trockene zu kommen. Sanrakos Hütte war die nächste Anlaufstelle.
Rota nahm Juliano bei der Hand und zog ihn mit sich, ohne eine Gelegenheit für Begrüßungsworte zu ermöglichen. Niemanden störte das, denn sie alle wussten, wie schwer es war, bei dem Getöse einander zu verstehen. Außerdem war niemandem entgangen, dass sich der Petu beim Aufprall der Welle verletzt haben musste. Kaum waren sie in die Hütte von Sanrako getreten, untersuchte Wite Juliano und fragte nach den Schmerzen. Der Wateko hatte bereits ein Feuer im Kamin entzündet und Kleidung bereitgelegt.
„Nur Prellungen“, stellte sie fest.
Rotas Puls beruhigte sich.
Als Sanrako die Kleider verteilte, wurde Juliano sich offenbar zum ersten Mal der ihm fremden Hada bewusst. Er musterte den Wateko mit großen Augen, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, ließ es dann allerdings bleiben.
Anhand der unbewussten Bewegung, die Juliano mit der Hand machte, während er starrte, begriff Rota, dass es die Größe Sanrakos war, die den Petu irritierte. Er hatte noch nie einen so kleinen erwachsenen Menschen gesehen.
„Das ist Sanrako“, stellte sie die beiden einander vor. „Und das ist meine Mutter Idis.“
Juliano lächelte verlegen.
„Ado“, sagten Sanrako und Idis gleichzeitig.
Dann zogen sie sich hinter den Vorhang zurück, der bei Bedarf vor Sanrakos Schlafplatz gezogen werden konnte, um sich umzuziehen. Da Rota ihre Mutter und den Wateko darüber informiert hatte, wie schwer sich der Petu mit nackter Haut tat, war es für sie selbstverständlich, Rücksicht darauf zu nehmen. Schließlich blieb nur noch Juliano in seinen nassen, bestickten Strümpfen übrig. Er betrachtete die Hadakleidung skeptisch. Rota drückte sie ihm in den Arm und schob ihn zum Vorhang.
„Es ist immerhin eine Hose und kein Rock. Und dass sie wegen deiner außergewöhnlich langen Beine gerade mal bis zum Knie geht, dürfte dich nicht stören, das ist auch nicht kürzer als deine eigene Hose.“ Mit einem Ruck war der Vorhang geschlossen und der Petu vor Blicken verborgen.
„Wieso kein Rock?“, wollte Idis wissen. „Die sind auf nasser Haut viel leichter anzuziehen.“
„Das ist so ein Petuding“, sagte Rota. „Nur Frauen ziehen bei den Petu Röcke an.“
„Und Geweinari?“
Rota wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Juliano beharrte zwar darauf, dass es bei den Petu nur Männer und Frauen gab, aber das konnte sie sich nicht vorstellen.
Als Juliano schließlich umgezogen hinter dem Vorhang hervortrat, war Rota von seinem Aufzug irritiert. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, ihn in seinen bestickten Sachen zu sehen, dass die Hadakleidung ungewöhnlich an ihm wirkte.
Idis und Sanrako staunten über seine Größe. Wenn Juliano nicht achtgab, würde er sich den Kopf an einem Balken der Hüttendecke stoßen. Da die Hada allesamt kleiner waren als die Petu, bauten sie ihre Häuser niedriger. Rota frage sich, wie groß die Nivasi Drai gewesen sein mussten, denn die Häuser in Ren Ima hatten unglaublich hohe Decken.
Juliano stand ein wenig unbeholfen im Raum und musterte verlegen die ihm unbekannten Hada. Da Rota es nicht gewohnt war, Leute einander offiziell vorzustellen, kam ihr der Gedanke nicht, ihn einzuführen.
„Ado, Juliano“, übernahm der Wateko. „Ich arbeite hier bei der Bhagaruma Lief und helfe bei den Brokun Ke, die Opfergaben in die Wagen zu laden.“
„Und hältst die Gehässigen davon ab herüberzuschleichen.“ Juliano grinste frech. Rota hatte ihm bereits ein paar Dinge über die Wateko erzählt. Er war beinahe genauso neugierig auf die Kultur der Hada wie Rota auf seine. Der Petu bewegte die Finger, um zu verdeutlichen, wie rätselhaft ihm das alles war.
Sanrako zog die Augenbrauen hoch. „Weshalb ich jetzt eine genaue Untersuchung von dir einleiten muss.“ Er erhob sich, nahm Werkzeuge aus einem Regal, die Rota nur vom Töpfer- und Ziegelpakaiwerk kannte.
Juliano bekam große Augen. Als plötzlich alle Hada zu lachen begannen, fiel er erleichtert mit ein. Rota sah ungläubig in Sanrakos Richtung. Ihr war nicht klar gewesen, was für einen fiesen Humor der Wateko hatte.
„Keine Sorge.“ Sanrako setzte sich wieder. „Wite und Rota versicherten mir, sie hätten keine gehässigen Lowa in deiner Stadt entdeckt.“
Juliano presste die Lippen aufeinander. „Sie haben meinen Vater auch nur kurz gesehen.“
War es ein Scherz? Rota konnte es nicht mit Sicherheit sagen. In jedem Fall ging sie nicht davon aus, dass Julianos Vater von einem gehässigen Lowa bestiegen war. Dieser Mann schien einfach ein unangenehmer Mensch zu sein. Ähnlich vielleicht wie Zudei. Wie er sich als Krisco verhielt, konnte sie nicht beurteilen.
Sie fragte sich, wieso Juliano bei seinem Vater blieb und auf seine Anweisungen hörte, wenn es ihm so zuwider war. Kam ein Hada in einer Povar nicht zurecht, wechselte die Person in eine andere oder baute sich eine alleinstehende Hütte. Die Povarstruktur der Petu kam ihr eigentümlich vor. Sie schien auf direkte Blutsverwandtschaft beschränkt zu sein.
„Es ist schön dich zu sehen“, sagte Idis an Juliano gerichtet, ihre Stimme gefärbt von freudiger Erregung.
Als sein Blick auf sie fiel, brachte ihn das auf andere Gedanken. „Du bist Baumeisterin.“ Juliano musterte sie neugierig. Ob er nach Ähnlichkeiten suchte oder Anzeichen für ihre Fähigkeiten, war nicht klar. Vielleicht beides. „Das passt gut“, sagte er. „Ich habe in den Archiven etwas gefunden.“
Er trat noch einmal hinter den Vorhang und holte eine Tasche. Rota war sie nicht aufgefallen. Etwas irritiert stellte sie fest, dass es eine Rückentasche war, wie die Hada sie machten. Es sah nicht nach Petupakaiwerk aus.
„Woher hast du die?“
Er blickte verwirrt auf die Rückentasche. „Die lag im Archivraum unserer Bibliothek.“
Rota wandte sich an Sanrako. „Schicken wir solche Sachen in die Stadt?“

Schreibe einen Kommentar