Es ist gar nicht so lange her, da hatte ich eine Zweite-Weltkrieg-Phase. In dieser Phase las und hörte ich Geschichten über Weltereignisse, die sich mit den Schrecken befassen, wenn Menschen im Rudel austicken und anfangen, sich gegenseitig und systematisch zu quälen und umzubringen. Das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den Geschehnissen in der Welt war an meiner Phase bestimmt nicht unbeteiligt.
Ich schätze Ken Folletts historische Romane. Sie beleuchten in lebendiger Weise Aspekte, die mir in der Schule mit knochentrockenen Fakten nach der zehnten Wiederholung zu den Ohren rausquollen, und erzählen mir von ganz anderen Blickwinkeln, die im Rahmenplan aus Zeitmangel jedes Mal unter den Tisch fielen.
In Winter der Welt erleben wir unter anderem eine deutsche Familie, die an die Demokratie glaubte, bis sie unter den Machenschaften der NSDAP zerbricht. Diese Partei wurde nicht von der Mehrheit der Deutschen gewählt, doch ihre Skrupellosigkeit überraschte die Demokraten, und dann war es zu spät. Gewalt überrollte die ungläubigen Bürger, Hass steckte frustrierte Menschen an, und der Mechanismus des Wahnsinns war aktiviert.
Dieser Punkt ist es, der Mechanismus des Wahnsinns, der mir im Augenblick die meiste Angst macht. Wir leben in einem Land, in dem wir an Bequemlichkeit gewöhnt sind. Wir haben Erste-Welt-Probleme. Deshalb gehen wir davon aus, dass sich jeder Mensch, bis auf ein paar unrühmliche Ausnahmen, stets seiner Vernunft bedient, um Entscheidungen zu treffen. Wir sehen zwar, dass es in anderen Ländern anders läuft, aber das sind für uns nur Gedankenkonstrukte, wie die Geschichtserzählungen über den Zweiten Weltkrieg. Es ist für uns nicht real genug, um zu erkennen, dass der Mechanismus des Wahnsinns überall ausgelöst werden kann.
Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, dass die niederen Triebe in uns lauern, wie ein Herpesvirus. Sobald unser Immunsystem (hier wäre es, die Fähigkeit logisch zu denken) durch äußere Einflüsse (beliebtestes Mittel ist die Angst) geschwächt wird, schlägt das Virus zu. Vorrangige Triebe, die unsere hochgelobte Fähigkeit, uns durch den Verstand und die Vernunft vom bloßen Tier zu unterscheiden, außer Kraft setzen können, sind Hass, Neid und Gier.
Ich habe vor kurzem Free State of Jones gesehen. Zum einen fand ich den Film sehr interessant, weil er, ähnlich wie Winter der Welt, Mitternachtsfalken und Die Leopardin von Ken Follett, ein Thema aufgreift, das zwischen den kolossalen Ereignissen der aufeinanderprallenden Kräfte kaum zur Sprache kommt. Kriegsgeschichten reduzieren uns auf die Bevölkerungsgruppe, zu der wir gehören, ungeachtet dessen, was wir zu der Zeit tatsächlich getan haben. Wenn wir an die Südstaatler denken, dann ist das die Gruppe von Leuten, die Sklaven gehalten hat und dafür in den Krieg gezogen ist, um das Unrecht aufrechtzuerhalten. Genauso ergeht es den Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg. Wir teilen die Gruppen in Gute und Böse auf, auch wenn wir natürlich wissen, dass es unter den Guten auch Leute gab, die schlimme Dinge getan haben und unter den Bösen Menschen, die alles geopfert haben, um das Richtige zu tun.
Wir fragen uns trotzdem, warum die Guten unter den Bösen nicht mehr getan haben. Oft sind es nur sehr wenige wirklich kranke Menschen, die solche Untaten initiieren und Kriege vom Zaun brechen, um ihre Triebe zu befriedigen. Aber warum folgen wir ihnen? Warum lassen wir uns von ihrem Wahnsinn anstecken?
Ich denke, dass es daran liegt, dass Hass und Wut zu allem bereit sind, während das Gewissen uns zur Mäßigung anhält. Weil es leichter ist, nichts zu tun. Weil wir unsere Ängste überwinden müssen, die gekonnt gegen uns eingesetzt werden.
Der Mechanismus des Wahnsinns wandert, bleibt gerne länger, wo Armut und Hunger alles noch schlimmer machen. Aber er macht auch vor unserer Tür nicht halt. Er hat uns wieder erreicht Der Spruch ˈWehret den Anfängenˈ hat mehr Bedeutung, als die bloße Aufforderung, nicht mitzumachen. Hier geht es darum, zu erkennen, wenn sich jemand anschickt, den Mechanismus des Wahnsinns erneut zu starten. Denn wenn es erst einmal losgeht, dann ist es zu spät. Einen Zug davon abzuhalten, loszufahren ist leichter, als ihn zu stoppen, wenn er erst einmal in voller Fahrt ist. Darum ist es jetzt wichtig, nicht darauf zu warten, was passiert und zu hoffen, dass die AfD vernünftig sein wird. Die NSDAP hatte auch keine Mehrheit, aber ihre Anführer waren zu allem bereit. Wir dürfen nicht akzeptieren, wenn Unrecht begangen wird. Wir schreiben und klären auf mit #wirschreibenDemokratie.
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