Leseprobe „Infiziert“

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Acht Jahre und neun Monate nach Ausbruch

Charlie schlängelte sich zwischen umgestürzten Werbetafeln, Laternenmasten und Geröll hindurch. Überall lagen zerrissene und von Wind und Wetter gezeichnete Weihnachtsgirlanden. Hinter ihr, in der Mitte eines Kreisverkehrs, stand eine geschmückte Tanne. Der Baum grünte, während sich der modrige Schmuck verzweifelt an seine Äste klammerte. Autowracks drängten sich um seinen Stamm wie Geschenkpäckchen. Ein von Rankenpflanzen überwucherter Panzer stand mitten auf der Fahrbahn.

Sie kletterte auf seinen Turm und hockte sich hin. Der große Platz vor ihr war ausgestorben. Rostrote und schwarze Blutspuren hatten sich in den Asphalt gefressen. Militärfahrzeuge standen wie zum Salut in zwei Reihen und richteten ihre Waffen auf den Eingang des Zoos hinter dem Platz. Zwei graue Steinelefanten flankierten die eisernen Tore; dem einen fehlte der Rüssel, den anderen hatten Einschusslöcher durchsiebt, so dass er von Weitem aussah wie ein Bär mit gesträubtem Fell. Charlie konnte Krater hinter den hohen Gittern erkennen. Ansonsten war nichts zu sehen.

Sie sprang vom Panzer. Ihre schweren Stiefel schlugen laut auf dem Boden auf. Das wenige Laub, das bereits von den Bäumen gefallen war, dämpfte den Aufprall kaum. Ihr Atem verwandelte sich in weißen Dunst. Es war schon verdammt kalt für diese Jahreszeit.

Sie zückte ihre Machete und rannte in langen Schritten in den Schatten der linken Statue. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass ihr Funkgerät blinkte.

Mist.

Sie schob sich an der Statue vorbei und hockte sich in das wuchernde Gestrüpp hinter der Mauer.

„Alles klar“, wisperte sie ihren üblichen Spruch ins Mikro. Statisches Rauschen war die einzige Erwiderung.

Dieser sture Hund.

Aber immerhin hatte sie von Anfang in Kauf genommen, dass Rafael sauer sein würde, als sie sich davongemacht hatte. Er hatte nicht gewollt, dass sie auf Tour ging.

Gerade als sie das Funkgerät zurückstecken wollte, antwortete er doch noch.

„Ich hab gesagt, du sollst warten.“

„Wir brauchen die Munition.“

Er knurrte in sein Gerät. „Im Augenblick sind andere Dinge wichtiger.“

Wenn es etwas gab, das noch knapper war als Patronen, dann war es Trinkwasser. Sie hatten schon seit Tagen ein akutes Wasserproblem. Die Supermärkte waren geplündert und es regnete einfach nicht.

„Ich bin niemandem von Nutzen, wenn ich zu Hause rumhocke. Und Marcus kann ich bei seinem Kondensdings eh nicht helfen.“

Marcus war wie Gibs ein Ingenieur. Charlie verstand zu wenig von solchen Dingen, um sich erklären zu lassen, was genau die beiden früher gemacht hatten. Alles, was sie wusste war, dass Gibs sich mit Elektrotechnik auskannte und das Marcus schon seit längerem eine Anlage plante, mit der er Tau auffangen wollte oder Kondenswasser. Verfahrenstechnik, nannte er das.

„Du kannst nicht immer einfach machen, was du willst.“ Sie konnte förmlich hören wie Rafael mit den Zähnen knirschte. Dann wurde seine Stimme weicher. „Aber du hast recht, wir brauchen Munition. Komm zurück, dann planen wir das richtig. Vielleicht kann ich Lee und Annie entbehren.“

Charlie verdrehte die Augen. Das hatten sie schon hundert Mal durchgekaut. Er hatte schon einen Trupp draußen, der sich außerhalb des Stadtkerns nach Wasser umsah. In den Vororten gab es manchmal Brunnen oder illegale Grundwasserpumpen. Die Übrigen hatten alle Hände voll zu tun. Annie kümmerte sich um die Kinder, Hiram kümmerte sich um Ian. Er hatte ihm eines seiner Beine noch einmal brechen müssen, weil der Knochen nicht richtig zusammengewachsen war. Blieben noch Rafael und Lee, die Doppelschichten schoben, um das Lager zu bewachen. Selbst Charlie hatte von den langen Tagen und Nächten schon dunkle Ringe unter den Augen.

„Du kannst niemanden entbehren und ich bin es leid zu warten.“

„Alleine ist es zu gefährlich.“

„Ich werde nicht alleine sein.“ Und genau da lag wahrscheinlich das größere Problem. Als Gill ihnen über Funk angeboten hatte, sich an einem Streifzug zu beteiligen, hatte Rafael sofort abgelehnt. Wohl wissend, dass außer Charlie niemand mitgehen konnte.

Unruhig wippte sie auf ihren Fußballen. Es machte sie nervös, so lange an einem Ort zu hocken. Mechanisch sah sie sich um. Im Zoo und auf dem Platz hinter ihr war alles ruhig.

Ob die anderen schon da sind?

„Ich mach mich jetzt auf den Weg.“

Rafael schwieg. Das Knistern im Funkgerät erschien ihr wie ein zorniges Echo seiner Gedanken.

„Pass auf dich auf“, sagte er schließlich resigniert und brach die Verbindung ab.

Charlie verlor keine Zeit, steckte das Funkgerät ein, sah sie sich noch einmal um und lief weiter. Im Kassenbereich zupfte sie einen Geldschein von einem Ast und legte ihn auf den Tresen.

„Ein Erwachsener und eine Tüte Futter“, sagte sie, griff durch das offene Fenster und nahm sich ein herrenloses Ticket. Futter gab es keines mehr. Die Tütenreste lagen überall verstreut.

„Na gut, dann eben ohne.“

Sie schwang sich über das Drehkreuz und pirschte die verwilderten Wege entlang. Aufmerksam musterte sie die Käfige und achtete auf offene Türen und zerbrochene Gitter. Ihr stand nicht der Sinn nach einer intimen Begegnung mit einem hungrigen Raubtier.

Bei einem Wegweiser blieb sie stehen und suchte nach dem Affenhaus. Es lag nahe dem Eingangsbereich und als sie auf dem Weg vor dem Gebäude ankam, ließ sich ein Wachposten auf dem Dach blicken. Sie konnte nicht sagen, wer es war. In ihrer dicken Schutzkleidung sahen sie alle gleich aus.

Gill ist also schon hier.

Charlie huschte in den Schatten des niedrigen Gebäudes und drückte sich mit dem Rücken gegen die gekachelte Wand. Efeu rankte sich an den Mauern empor. Ein grüner Jeep stand unter einem Baum neben dem Hinterausgang. Auf seinen Türen prangte das Emblem des Zoos. Der Baum war hoch, aber vom Dach des Wagens aus konnte sie sich auf die untersten Äste hinaufziehen. Sie reichten nicht ganz bis zum Flachdach des Affenhauses, aber mit einem beherzten Sprung konnte sie es erreichen.

Ein Rascheln schreckte sie auf. Auf der anderen Seite des Weges befand sich ein Gewirr aus Büschen und Sträuchern. Die Zweige zitterten bedrohlich. Sie packte ihre Machete fester. Doch statt eines Infizierten oder wilden Pumas, tapste ein eigenartiges Schwein mit dunklen Kuhflecken aus dem Busch.

Ein Tapir.

Sie atmete auf. Dann steckte sie die Machete in den Gürtel, wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab und kletterte auf den Jeep. Sie musste springen, um den untersten Ast zu erreichen, schwang sich hoch und packte den nächsten. Auf Bäume zu klettern, war fast schon zu einfach.

Vorsichtig balancierte sie so weit auf das Dach zu, wie es ihr sicher erschien. Dann sprang sie noch einmal. Beinahe geräuschlos kam sie auf und rollte sich ab.

Gills nahm sie in Empfang. Seine Leute lagen am Rand des Dachs verteilt und beobachteten das Gelände. Hulk drehte sich zu Charlie um und hob grinsend den Daumen.

„Wie stehtꞌs?“ fragte Gill.

Sie hockte sich hin. Er tat es ihr nach. Sie sahen aus wie zwei Affen – wie passend – aber das war immer noch besser als eine gute Zielscheibe abzugeben. Zwar standen keine Häuser in unmittelbarer Umgebung, doch ein Scharfschütze hatte einen langen Arm. Und auch wenn Infizierte sich mehr auf ihr Gehör oder den Geruchssinn verließen, hatten auch sie Augen im Kopf.

„Wir brauchen Munition.“

Er musterte sie skeptisch. Sie wusste, dass er ihre trockenen, gesprungenen Lippen, die dunklen Augenringe und ihre graue Hautfarbe registrierte. Wortlos reichte er ihr seine Feldflasche und sie trank drei Schlucke. Er nahm sie nicht zurück.

„Raf ist beschäftigt, ja?“

Charlie zuckte mit den Schultern. Gill dachte nach.

„Woran hast du gedacht?“

„Hunters Hole.“

Es gab nicht viele Waffengeschäfte in der Stadt. Die leicht zugänglichen waren schon längst geplündert. Hunters Hole lag im Untergeschoss einer Einkaufspassage. Dort war es stockdunkel und gefährlich. Nur wer den Laden kannte, wusste, dass er dort war. Deshalb gab es dort noch reichlich Ware.

Gill nickte. „Wir könnten auch Nachschub gebrauchen.“

„Dann los.“ Charlie stand auf.

„Warte.“ Gill packte sie am Arm. „Wie schlimm ist es?“

Die anderen drehten sich verstohlen zu ihnen um. Gill und seine Leute hatten sich ihnen zwar nicht angeschlossen, sie trafen aber so häufig zusammen, dass sich Freundschaften entwickelt hatten. Nicht nur zwischen Charlie und Gill. Sie würden tun, was sie konnten, um zu helfen. Doch Charlie wusste, dass niemand viel übrig hatte, zurzeit vor allem kein Wasser.

„Wir kommen klar. Marcus tüftelt etwas aus.“ Sie versuchte Zuversicht auszustrahlen. „Wir halten durch.“

„Und die Kinder?“, wollte Zara wissen. Charlie verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. Die Kinder bekamen fast alles an Wasser, was sie noch hatten und trotzdem traf es sie am schwersten. Zara nickte und Charlie wusste, dass nicht nur Gills Wasserflasche am Ende dieses Raubzugs zu ihrer Beute gehören würde.

„Lasst uns aufbrechen“, sagte er.

Hulk rappelte sich hoch und warf das Ende einer Strickleiter über die Dachkante. Einer nach dem anderen kletterten sie hinunter. Charlie stieg Gill voraus.

„Keine coole Fassadenkletterei mehr heute?“, neckte Ken sie. Er hatte sein Maschinengewehr im Anschlag und behielt die Umgebung im Auge. In einem Beinhalfter steckte eine vollautomatische Pistole. Gills Leute hatten ein Faible für schweres Gerät. Hulk, Zara und Sophia waren mit den gleichen Waffen ausgerüstet. Miles, Jeanne und Peter hatten Scharfschützengewehre mit Hightechequipment. Gill trug zwei Maschinenpistolen an der Hüfte.

„Los, los, los!“ Er deutete mit zwei Fingern geradeaus und seine Leute bewegten sich vorwärts.

Wie üblich, wenn sie gemeinsam unterwegs waren, nahmen sie Charlie in die Mitte. Sie trauten ihrer kleinen Pistole und der Machete nichts zu. Und ohne Schutzkleidung hielten sie Nahkampf für ein unmögliches Konzept in dieser schönen neuen Welt. Sie hatten Charlie ja auch noch nie kämpfen sehen.

Ihr war es nur recht. Sie lief nicht gerne die Straßen entlang und die breiten Rücken der anderen waren eine passable Deckung. Angreifer würden sie zuerst anfallen.

Sie erreichten die Passage ohne Zwischenfälle. Gill wies Miles an, auf dem Dach gegenüber Stellung zu beziehen und den Eingang im Auge zu behalten.

Hulk und Zara gingen zuerst hinein, die übrigen folgten. Die Türen fielen hinter ihnen zu und das Geräusch hallte zwischen den Wänden wieder. Charlies Herz schlug ihr bis zum Hals. Das spärliche Licht, das durch das Glas hinter ihr fiel, drang nicht einmal zwei Meter weit vor. Der fensterlose Flur führte in bodenlose Dunkelheit. Ein Schweißtropfen rann ihre Schläfe hinunter. Ich hasse diesen Bunker.

Hulk und Zara ließen Taschenlampen aufblitzen, die unter ihren Gewehren befestigt waren, um die nähere Umgebung zu beleuchten. Schaukästen säumten die Wände. Einer war eingeschlagen, eine Schaufensterpuppe hing in den gezackten Randstücken wie eine Leiche. Weiter vorne öffnete sich der Korridor in eine Halle mit Geschäften und Treppen.

Charlie schloss die Augen. Ihr Körper vibrierte im Rhythmus ihres Herzschlags. Sie konzentrierte sich auf ihr Gehör. Es war so still, dass sie meinte, taub zu sein.

Gill berührte sie an der Schulter und signalisierte ihnen, vorzurücken. Die Schatten flohen vor den Lichtkegeln der Lampen. In den Schaufenstern glitzerten Dekosterne aus Glanzpapier und Aufsteller warben mit Weihnachtsschnäppchen. Nackte Tannenbäume ließen traurig ihre mit Lichterketten gefesselten Zweige hängen. Und überall lagen die Überreste von Einkäufen.

Als sie an den Brunnen kamen, der sich unter einem breiten Steg im Restaurantbereich befand, reflektierten die metallenen Kunstwerke darin das Licht. Das Becken war trocken. Früher war Wasser über das Metall der silbernen Blätter und Trichter geflossen und hatte es leise klingen lassen. Als Kind hatte Charlie das Wasserspektakel gerne bewundert, wenn eine ihrer Nannies mit ihr hier essen gegangen war. Jetzt war es totenstill. Tische standen auf dem Steg über dem Becken. Einige lagen auf der Seite, ein Stuhl war in den Brunnen gestürzt.

„Weiter.“

In der Dunkelheit hörten sich die Atemzüge und ihre widerhallenden Schritte bedrohlich an. Die Rolltreppen glichen gähnenden Mündern in den Abgrund der Hölle, jede Schaufensterpuppe schien sich in Bewegung zu setzen, wenn Licht auf sie fiel.

Dann kam die kurze Treppe, die ins Untergeschoss und damit auch zu Hunters Hole führte. Vor ihrem geistigen Auge sah Charlie gierige Arme, die durch die Gitterstäbe des Geländers nach ihren Beinen griffen. Kalte Schauer jagten ihren Rücken hinunter. Ihre Innereien verknoteten sich und trotzdem nahm sie Stufe für Stufe.

Alles bloß Einbildung.

Im Untergeschoss war es noch schwärzer und eisig kalt. Sie hätte sich gerne eine Weile gegen eine Wand gedrückt, um zu lauschen, doch so ging Gills Mannschaft nicht vor. Warten und Umgehen war nicht ihre Stärke.

Charlie lächelte, als sie an das erste und einzige Mal zurückdachte, als sie einen der gemeinsamen Streifzüge geleitet hatte. Es hatte sie alle verdammt nervös gemacht Charlie so nackt vor sich her laufen zu lassen.

„Nicht einmal ein winziges Maschinenpistölchen?“, hatte Hulk verdutzt gefragt.

 „Ich komme mir vor wie eine Schießbudenfigur. Auftauchen, abtauchen, auftauchen, abtauchen“, hatte Sophia sich beschwert.

„Ich lebe noch – im Gegensatz zu vielen anderen“, war Charlies unwiderlegbares Argument gewesen. Doch seitdem hielt sie sich im Hintergrund, wenn sie zusammen unterwegs waren. Gills Leute arbeiteten effektiver auf ihre eigene Weise und Charlie konnte sich anpassen.

Licht einer Taschenlampe blitzte auf und irgendwo im hinteren Teil des Flures raschelte es. Charlie zischte es heiß den Nacken hoch. Gehetzt sah sie sich um.

Wir sitzen hier in der Falle.

Gill machte ein Zeichen. Das Licht ging aus, zwei Leute entfernten sich. Vermutlich die Scharfschützen. Jeanne und Peter hatten eine Nachtsichtfunktion in ihren Zielfernrohren.

Die plötzliche Dunkelheit war so dicht, dass sie greifbar wirkte.

Wieso wollte ich unbedingt hierher?

Charlie leckte sich über die spröden Lippen. Ihr Herz pumpte wie verrückt in der Brust und heiße-kalte Wellen überrollten sie. Eine Hand legte sich auf ihren Rücken und sie bemerkte, wie hektisch ihre Atmung geworden war. Sie entzog sich der Berührung und lehnte sich an die kalte Fliesenwand, ein fester Punkt auf den sie sich konzentrieren konnte, während sie ihre Sinne zur Ordnung rief. Langsam glitt sie in die Hocke und presste die Handballen auf ihre Stirn. Mit geschlossenen Augen versuchte sie auszumachen, wo das Geräusch hergekommen und was es gewesen war. Dann hörte sie das Fauchen einer aufgeschreckten Katze.

Die Lampen glommen wieder auf und beleuchteten ihre blassen Gesichter. Zara wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Verlieren wir keine Zeit.“

Die Lichtkegel schwenkten zu Hunters Hole. Vor den Schaufenstern hingen schwere Gitter, was erklärte, weshalb die Scheiben noch intakt waren. Ein Waffengeschäft wäre bei Ausbruch des Chaos in der Einkaufspassage die erste Anlaufstelle panischer Plünderer gewesen.

Hinter dem Glas hingen überwiegend asiatische Schwerter. Aber auch Messer, eine Armbrust, Sportbögen und sogar ein Kettenhemd. In den Ladenraum selbst konnten sie nicht hineinsehen.

Gill, der neben Charlie stand, schickte Hulk und Zara vor, um den Innenraum zu überprüfen. Dann wandte er sich ihr zu.

„Alles okay?“

Sie fühlte sich fiebrig und matt. Aber was half es schon? Sie mussten weitermachen. Das war eine Frage des Überlebens.

„Klar.“ Sie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte und ließ sich von ihm hoch ziehen. „Bringen wir es hinter uns und hauen ab.“

„Okay.“

Jeanne und Peter blieben an der Tür stehen, behielten die Treppe und den Flur im Auge, während die anderen hineingingen.

Es war ein vollgestopfter Laden. Die Gänge waren eng und überall lief man Gefahr hängenzubleiben oder etwas herunterzustoßen.

Charlie hatte den Treckingrucksack dabei und ließ sich von Zara dabei helfen, die richtige Munition einzupacken. Wenn sie ohne Begleitung unterwegs war, warf sie einfach so viel wie möglich in ihre Tasche und hoffte, dass es passte. Auch wenn sie ab und an mit einer Waffe schoss, konnte sie immer noch keine 9mm von einer was auch immer unterscheiden. Wozu auch? Sie verließ sich lieber auf ihre Machete.

„Bewaffnet wie Crocodile Dundee“, hatte Rafael gesagt, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. Nur seinetwegen hatte sie eine Halbautomatik. Er fühlte sich besser, wenn sie anständig bewaffnet war. Charlie lächelte schief und schaufelte eine Ladung Patronenpäckchen in den Rucksack.

„Es reicht“, sagte Zara, die langsam nervös wurde.

Sie waren lange genug in dem Gebäude, um ihren Geruch überall verteilt zu haben. Wenn in den oberen Stockwerken Jäger waren, welcher Art auch immer, würden sie bald ihre Witterung aufnehmen.

Eilig schnappte sich Charlie noch ein Bündel Pfeile für Dan und schulterte den Rucksack. Auch sie war froh, dass sie die Einkaufspassage wieder verließen.

Der Rückweg war immer noch nervenaufreibend, aber die Euphorie des geglückten Beutezugs, verdrängte die Panik. Als das schwache Licht am Ausgang in Sicht kam, war es wie eine Offenbarung. Es war albern. Immerhin ging es hier nicht um Vampire, die von der Sonne verbrannt wurden. Und ohne Miles Rückendeckung, wäre die Gefahr draußen noch größer, als in diesem finsteren Loch. Doch die Psyche spielte einem gerne Streiche.

Gierig endlich wieder frische Luft einzuatmen, riss Charlie die Tür auf und machte einen Schritt vor. Im selben Augenblick hörte sie es.

Das hat man davon, wenn man sich auf einen anderen verlässt.

Sie spürte kaum, wie sie von dem Körper getroffen und umgerissen wurde. Es ging alles viel zu schnell. Heiß schoss ihr der Schmerz durch den rechten Ellenbogen, für einen Augenblick blieb ihr die Luft weg. Sie kämpfte gegen das Gewicht an, das sie zu Boden drückte und spürte gepolsterte Schutzkleidung.

Miles?

Sein Schutzhelm prallte mit einem Knall gegen ihre Stirn und sie sah Sterne. Dann hörte sie Gewehrfeuer und Schreie. Miles versuchte, sie zu beißen, aber das Visier behinderte ihn. Speichel rann nass und klebrig ihren Hals hinunter.

Plötzlich ragte ein Schatten über ihnen auf und sie sah das Metall einer Klinge in der Sonne glänzen. Blut sprudelte aus Miles Kehle, als das Messer in sein Fleisch schnitt. Warm spritzte es auf Charlies Haut. Sie drehte den Kopf weg.

Miles sackte auf ihr zusammen und so abrupt wie der Tumult begonnen hatte, war es wieder still. Außer ihrem eigenen Keuchen konnte sie nichts hören. Waren alle tot?

Stöhnend krabbelte sie unter der Leiche hervor und richtete sich zitternd auf.

Gill und seine Leute standen dicht gedrängt in einigen Metern Entfernung. Sie hielten angespannt ihre Gewehre auf sie gerichtet. Das Messer, das Miles getötet hatte, lag neben vier weiteren Leichen am Boden. Charlie sah sich um und rieb sich den schmerzenden Ellenbogen.

„Wenn jetzt einer von hinten kommt, seid ihr alle geliefert.“

Hulk lachte nervös, aber es lag keine Heiterkeit darin. Sie hatten einen Freund verloren und auch wenn sie solche Verluste schon häufig erlebt hatten, gewöhnte man sich nie daran. Und sie hatten Angst. Voller Argwohn blieben die Gewehrläufe auf Charlie gerichtet.

Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Kinn und betrachtete die Blutschliere darauf.

„Sie schicken mich nicht umsonst vor.“

Gill kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Dann holte er aus seinem Marschgepäck eine Flasche mit Brackwasser und warf sie Charlie zu. Ohne zu zögern zog sie ihren Blut durchweichten Mantel und die Hemden aus und wusch sich auf offener Straße. Ihre nasse Haut zog sich an der kalten Luft unangenehm zusammen. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Zähne klapperten.

„Hübsch“, sagte Ken und betrachtete unverhohlen die blaue Spitze über ihrer Gänsehaut. Sowas bekamen sie mit Sicherheit selten zu sehen. Spitzenwäsche stand nicht gerade auf Platz eins der Beuteliste.

Charlie grunzte und zerrte aus ihrem Rucksack ein neues Hemd und einen Pullover. Die Schachteln mit Munition fielen klappernd durcheinander.

„Zufrieden?“

Langsam senkten sie ihre Waffen.

„Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich es immer noch nicht glauben“, sagte Zara und trat einen Schritt näher. „Ich dachte immer die Geschichten wären maßlos übertrieben. Aber da stehst du, putzmunter und kein bisschen fauchend und schnappend.“

„Ja klasse, ich bin auch ganz aus dem Häuschen. Aber können wir das ein andermal diskutieren?“ Frierend schlang Charlie die Arme um ihren Körper. Ihr Mantel war hinüber und es war definitiv kein T-Shirt-Wetter.

„Da vorne ist ein Klamottenladen“, sagte Gill und wies mit dem Kinn die Straße hinauf. „Komm, wir besorgen dir schnell was.“

Das Geschäft war keine fünfzig Meter entfernt. Das Schaufenster lag in Scherben, ein Kleiderständer zur Hälfte draußen.

Charlie stieg über die knirschenden Glassplitter hinweg und pflückte eine dicke Jacke von einem Bügel. Gill und Hulk begleiteten sie und leuchteten den Verkaufsraum aus. Als sie wieder nach draußen kamen, waren die anderen ausgeschwärmt. Ken ging hinter einem einsamen Autowrack in Deckung, das Maschinengewehr angelegt. Zara kniete neben einer Motorhaube. Die Scharfschützen hockten Rücken an Rücken auf einem Lieferwagen.

Charlie schaute zu Miles. Niemand außer ihr würdigte seine Leiche eines Blickes. Selbst wenn sie gewollt hätten, konnten sie sich ihm nicht nähern, ohne sich anzustecken. Dass jemand sich gewagt hatte, ihm die Kehle aufzuschlitzen, anstatt ihn einfach mit Charlie zusammen über den Haufen zu schießen, war schon Zugeständnis genug.

„Wo genau sollte er Stellung beziehen?“ fragte sie Gill über ihre Schulter hinweg. Er deutete auf ein Gebäude gegenüber. Als sie die breite Straße überquerte, blieb er an ihrer Seite. Sie hatte keinen Zweifel, dass es sein Messer war, das neben Milesꞌ Leiche auf dem Boden lag.

„Was hast du vor?“, wollte er wissen.

Sie spähte durch eine zerbrochene Schaufensterscheibe in einen Süßwarenladen und warf noch einen raschen Blick in die Gasse daneben. Eine Feuerleiter führte von dort auf das Dach, das Miles nie erreicht hatte.

„Das ist ihr Nest“, sagte sie überzeugt. „Hier haben sie ihn überrascht.“

Plastikmüll und Papierfetzen raschelten unter ihren Sohlen, als sie durch die offene Tür in das Geschäft ging. Die Machete lag sicher in ihrer Hand. Gill schnaubte verständnislos, folgte ihr aber. Im hinteren Teil des Ladens lagen mehrere Körper hinter dem Verkaufstresen und verströmten einen beißenden Geruch.

Charlie hielt sich den Arm vor Mund und Nase und trat noch einen Schritt näher.

„Lass uns hier verschwinden“, sagte Gill. Für ihn ergab es keinen Sinn, Tote zu inspizieren. Vor allem wegen der hohen Infektionsgefahr. Aber Charlie hatte ihre Gründe. In dieser Stadt gab es Geheimnisse, Rätsel, die sie lösen wollte. Und Leichen konnten ihr dabei helfen. Deshalb schüttelte sie den Kopf, hockte sich hin und begann, die Toten zu untersuchen. Sie wollte wissen, zu wem die Leichen gehörten. Es war schwierig für die Infizierten, Überlebende schnell genug zu töten, ohne sie anzustecken. Sollten die Körper Veränderungen aufweisen, waren es welche von Charlies Art. Wenn nicht, dann gehörten die Toten zu den Leuten von Charlies geheimnisvollem Schatten. Deren Leichen zeigten nie Spuren der Infektion.

Gill würgte, als sie mit dem Finger die Oberlippe eines Toten hochschob.

„Verdammt, was machst du da?“

Das Zahnfleisch begann sich mit dem Grad der Verwesung zu verfärben, sah aber ansonsten normal aus. Die Glaskörper unter den Lidern waren nicht auffällig blutunterlaufen.

Es sind welche von den anderen.

Charlie durchwühlte die Manteltaschen einer Frau, als ihr die grüne Karte in die Hände fiel. Sie hatte das Plastikkärtchen schon früher gesehen und strich mit dem Daumen über die schmutzige Oberfläche. Auch die anderen Leichen hatten den Ausweis bei sich. Biopass stand darauf sowie eine lange Zahlenreihe mit einem Strichcode.

„Was ist das?“ fragte Gill und vergaß seine Furcht vor den Toten für einen Augenblick.

„Keine Ahnung.“ Charlie steckte eine der Karten ein und stand auf. Sie ließ die Machete in ihren Gürtel gleiten und drängte sich an Gill vorbei aus dem Laden. „Zeit zu verschwinden.“

„Ookeey.“ Er würde später noch einmal auf das Thema zurückkommen, das konnte sie ihm ansehen. „Gehen wir.“ Er bedeutete ihr mit einem Kopfnicken vorzugehen. Das hieß dann wohl, dass sie zu Rafaels Unterschlupf mitkamen. Das würde nicht allen gefallen. Verstohlen blickte Charlie zu ihrem Funkgerät.

„Er wird es überleben“, sagte Gill trocken.

Sie seufzte. „Wie du willst.“

Geordnet traten sie den Rückzug an und folgten Charlie hinauf auf die Dächer. Mehr als einmal nahm sie einen Abzweig in die falsche Richtung, um keine Schilder mit der Aufschrift Hier geht es zum Futter aufzustellen. Trotzdem waren sie schneller am Ziel, als ihr lieb war. Rafael wartete schon. Er stand auf dem Platz vor der Kirche, in der sie zurzeit logierten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Wäre das Gewehr nicht gewesen, hätte er zu dem Stillleben gepasst, das die Krippenfiguren neben dem Tor darstellten. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er die anderen sah.

„Er könnte ruhig etwas dankbarer sein“, hörte Charlie Zara zischen.

Gill streckte Rafael die Hand entgegen, wortlos ergriff er sie. Dann bedachte Rafael Charlie mit einem zerknirschten Blick. Genervt drückte sie sich an ihm vorbei.

Annie und die Übrigen begrüßten die Neuankömmlinge mit mehr Freude und das nicht nur, weil Gills Leute ihre Wasservorräte mit ihnen teilten. Solange der Suchtrupp draußen unterwegs war, war jede Ablenkung willkommen.

Sie kamen in der Kapelle der Kirche um ein großes Lagerfeuer aus Kirchenbänken zusammen und reichten gekochten Kürbis herum, den das Außenteam vom letzten Streifzug mitgebracht hatte. Der plötzliche Kälteeinbruch diesen Herbstbeginn hatte auch seine Vorteile. Der Frost lähmte die Infizierten und trieb sie in ihre Nester. Dadurch gab es endlich mal wieder warme Mahlzeiten.

Als es dunkel wurde und sich die meisten zurückzogen, nutzte Gill die Gelegenheit und setzte sich zu Charlie. Sie hatte sich, in eine Decke gewickelt, neben die Tür verzogen. Als er sich neben ihr niederließ, öffnete sie die Decke und er rutschte näher heran. Zu zweit war es einfach wärmer. Außerdem war sie froh, dass er es war. Auf Rafaels Vorwürfe hatte sie keine große Lust.

„Erklärst du es mir?“, kam Gill direkt auf den Punkt.

Charlie spähte in das Halbdunkel der Kirche. Die Kinder schliefen bereits, eingemummelt in dicke Decken und an die warmen Körper von Annie und Marcus gepresst. Die Schatten des verlöschenden Lagerfeuers tanzten gespenstisch um sie herum. Ian lag daneben auf einer Pritsche, unter einem Stoffberg und in eine golden schimmernde Rettungsdecke gehüllt. Die anderen drängten sich auf der anderen Seite des Feuers zusammen und waren in ein Gespräch vertieft. Rafael sah kurz zu Charlie und Gill. Dann drehte er ihnen den Rücken zu.

„Er kommt nicht damit klar, oder?“ fragte Gill leise.

Charlie schnaubte. „Wollen wir jetzt über Raf reden?“

„Nein.“ Einen Moment lang schwiegen sie und beobachteten die Flammen. „Ich höre zu“, sagte er dann.

„Wir sind nicht alleine in dieser Stadt.“

Er runzelte die Stirn. Dass sie nicht alleine waren, wusste er, auch wenn die Stadt tot war. Es gab die Infizierten, wilde und verwilderte Tiere, sogar den ein oder anderen Überlebenden. Aber das meinte sie nicht. Sie sprach von den Leichen aus dem Süßwarenladen.

„Diese Leute sind irgendwie anders.“

Er dachte darüber nach. „Anders?“

„Sie stecken sich nicht an“, sagte sie und dachte dabei an sich selbst. Hatte sie nur immer wieder Glück oder war sie wie diese Fremden?

„Woher weißt du das?“

Charlie lächelte schief.

„Sorry. Blöde Frage.“

Sie sah diese Welt mit anderen Augen, nahm andere Wege. Während die meisten in Panik ziellos umherrannten, saß sie auf ihren Dächern und beobachtete.

„Vielleicht sind sie einfach immun“, schlug er vor.

Sie verzog skeptisch das Gesicht. „So viele auf einmal und dann kennen sie sich auch noch alle?“

„Möglicherweise kennen sie Schutzmaßnahmen oder ein Heilmittel.“

„Die Infizierten fallen über sie genauso her wie über uns. Wenn sie ein Heilmittel kennen würden, würden sie es bestimmt benutzen.“

„Wahrscheinlich.“ Er kaute auf seiner Unterlippe. „Was hast du bei den Toten gesucht?“

Sie griff unter der Decke in ihre Jackentasche und holte den Biopass hervor. An der kalten Luft prickelten ihre Finger unangenehm. Wenn der Frost noch lange anhielt, würden sie nicht mehr lange in der Kirche bleiben können. Wärme hielt sich in dem hohen Gemäuer nicht lang.

Gill nahm das Plastikkärtchen entgegen und betrachtete es schweigend.

„Sie brauchen es für den Zugang zu ihren Verstecken.“ Charlie hatte sie dabei beobachtet, wie sie die Karten benutzt hatten, um Türen zu öffnen. Türen von Gebäuden mit hohen Zäunen und Überwachungskameras.

„Sieht aus wie vom Militär“, sagte er. „Ein Ausweis.“

„Müsste dann nicht ein Bild oder ein Name draufstehen?“

Er schüttelte den Kopf. „Das sieht mir nach irgendeiner Verschlusssache aus. Kein Logo, keine persönlichen Daten und nur der richtige Computer kann den Code lesen.“

„Hm.“

Sie hatte ihn nie nach seiner Vergangenheit gefragt. Aber die Art wie er und seine Leute agierten, sprach ihre eigene Sprache. Ihre Haltung, ihr Zusammenspiel, alles deutete darauf hin, dass sie eine taktische Ausbildung bekommen hatten. Vielleicht sogar beim Geheimdienst?

„Hast du mal versucht, so eine zu benutzen?“ fragte er.

„Diese Leute machen keinen sehr gastfreundlichen Eindruck. Sie halten sich von Überlebenden fern. Wer weiß, wo ich da reinstolpere. Außerdem kommt man nicht so einfach rein. Sie scannen ihren“, sie zeichnete Gänsefüßchen in die Luft, „Ausweis und dann drücken sie ihre Hand oder den Finger noch irgendwo drauf.“

„Biometrische Erkennung.“ Er nickte.