Leseprobe „Gefesselt 1“

11

Ein Jahr und zwei Monate vor Ausbruch

Das Labor war erfüllt vom angenehmen Summen der Geräte. Entspannt blätterte Rebecca ihren Bericht von diesem Abend durch. Wie immer war sie alleine. Es störte sie nicht, im Gegenteil.

Sie rollte mit dem Stuhl zur Zentrifuge und stellte sie aus. Dann nahm sie eines der Röhrchen heraus und glitt zurück an ihren Arbeitstisch. Während sie das Mikroskop scharfstellte, piepte ihr Laptop. Irritiert sah sie auf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, irgendein Programm gestartet zu haben. Die Räder ihres Stuhls surrten über den Boden und noch bevor sie vor dem Gerät saß, hatte sie mit der Maus schon auf den blinkenden Button in der Schnellstartleiste geklickt.

Verdammt, dachte sie mit einem flauen Gefühl im Magen, als sich eines ihrer Programme öffnete, die sie illegaler Weise in die Server der Regierungsbehörden eingespeist hatte. Sie musste vergessen haben, es in den Ruhezustand zu versetzen, solange sie keine Zeit hatte, zu überwachen, wer Zugriff darauf nahm. Immerhin wollte sie nicht, dass man das Ganze zu ihr zurückverfolgte.

Eilig überprüfte sie, ob es einen Versuch gegeben hatte, das Programm zu hacken oder ob irgendeine Firewall Anstoß daran genommen hatte. Nichts deutete darauf hin, dass man es entdeckt hatte. Mit schuldbewusster Miene lehnte Rebecca sich in ihrem Stuhl zurück. Wollte sie wirklich den Erfolg ihrer Therapie in Frage stellen, indem sie sich ansah, was ihr Trojaner entdeckt hatte? Konnte es sein, dass er tatsächlichen einen Hinweis darauf gefunden hatte, dass Elli nicht nur in Rebeccas Fantasie gelebt hatte? Warum hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht, so einen dämlichen Plan auszuhecken? Sie wusste doch, dass Elli nicht echt gewesen war. Sollte sie wirklich eine neue psychotische Episode riskieren und nachsehen, was ihren Computer in helle Aufregung versetzte?

Energisch forderte das blinkende Fenster sie dazu auf, ein paar Bilder runterzuladen.

Wenn Rebecca ehrlich war, hatte sie die Grenze bereits überschritten, als sie die Programme schrieb. Doch bislang hatten ihre Spione nichts gefunden und auch wenn sie sich schon von fiesen Genetics-Schergen verfolgt gesehen hatte, weil sie das tödliche Geheimnis um ihre Schwester lüften wollte, war es seit Wochen ruhig geblieben. Niemandem war ihre Spyware aufgefallen und es hatten keine dramatischen Computerduelle stattgefunden, in denen sie vor Bösewichten ihre Identität verschleierte. Wahrscheinlich war es etwas ganz Harmloses, was ihr Programm gefunden hatte. Am besten sah sie es sich schnell an, damit sie endlich mit dem Unsinn aufhören konnte.

Mit fiebriger Neugier und der Überzeugung, es nur zu tun, um endgültig mit der Sache abzuschließen, sah Rebecca sich die Bilder an, die den stillen Alarm ausgelöst hatten. Sie vergrößerte die Ausschnitte der Londoner Flughafenkamera, die auf ihren Rechner geladen wurden. Darauf waren drei Menschen zu sehen. Zwei Männer in schwarzen Anzügen hatten eine zierliche Gestalt in der Zange. Die Frau in der Mitte ging gebeugt, die Männer hielten sie an den Oberarmen, als könnte sie sich nicht alleine aufrecht halten. Ihre Haare waren wirr und hingen ihr ins Gesicht und trotzdem hatte Rebecca keinen Zweifel. Es war Elli.

Geschockt fuhr sie zurück. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und die Leere, die sie seit Langem spürte, sackte schmerzhaft in ihre Magengegend. Es war wie ein Faustschlag in ihre Eigenweide. Stöhnend hielt sie sich den Unterleib. Alles drehte sich und sie musste für einen Augenblick den Kopf zwischen die Beine nehmen.

Gehirnwäsche, das alles war eine Gehirnwäsche!

Sie dachte an Dr. Nick. Oder bildete sie sich bloß ein, Elli auf dem kieseligen Bild zu erkennen? Vorsichtig hob sie den Kopf und sah zu ihrem Laptop. Dann richtete sie sich auf und vergewisserte sich, dass sie immer noch alleine war. Langsam, als befände sie sich unter Wasser, rollte sie mit ihrem Stuhl zurück an den Tisch. Ihre Finger zitterten, als sie ein paar Befehle auf der Tastatur tippte. Ein Ladebalken erschien. 99,9% Übereinstimmung, sagte die Gesichtserkennungssoftware. Rebecca hatte zwar nur ihr eignes Bild als Vergleich, aber immerhin war Elli ihr Zwilling. Wie erstarrt sah sie auf die Zahl. Dann ging alles ganz schnell. Sie löschte alle Daten und die Spyware auf den fremden Servern, klappte den Laptop zu und rannte überstürzt aus dem Labor. Sie vergaß sogar, das Licht auszuschalten.

*

Gill warf seine Tasche aufs Feldbett im Mannschaftszelt und stöhnte. Er war vollkommen erledigt. Kaum angekommen, hatte sein Gruppenführer ihn losgehetzt, um sich den Übrigen beim Training anzuschließen. Stundenlang mussten sie in kaltem Nieselregen durch Dickicht schleichen und im aufgeweichten Waldboden kauern. Seine Uniform war von Blättern und Zweigen übersät, eine braune Kruste hatte den Stoff stellenweise hart werden lassen. Sogar seine Unterwäsche fühlte sich klamm an und das kühle Herbstwetter war ihm bis in die Knochen gedrungen.

Zumindest hatte es auf dem Rückweg zum Lager aufgehört, zu regnen und nachdem sie entlassen worden waren, um zu duschen, war er Bell und Fletcher begegnet. Er erkannte Fletcher unter dem Schlamm und der Tarnfarbe in seinem Gesicht kaum, doch Bell war mit seinem leuchtend roten Schopf und dem massigen Körperbau unübersehbar. Die drei hatten sich erfreut begrüßt und ihre Taschen geholt, die man ihnen sofort nach der Ankunft abgenommen hatte. Dann waren sie zu einem der Zelte gegangen und hatten sich freie Feldbetten gesichert. Ihre Taschen verstauten sie unter den Liegen.

„Verdammter Regen“, maulte Fletcher, als er mit zwei Fingern sein Shirt von der Brust wegzog.

Gill grinste schief und zog Wäsche zum Wechseln aus seiner Tasche. Er spürte jeden Muskel in seinem Körper und rollte mit der Schulter. Dabei verzog er das Gesicht.

„Ist schon wahr, dass ihr Unihäschen nichts vertragt!“ Fletcher lachte und klatschte Gill auf dem Weg nach draußen ein eingedrehtes Handtuch auf den Nacken.

„Tja, tut mir leid. Wenn ich gewusst hätte, dass wir hier zum Wet-T-Shirt-Contest auflaufen, hätte ich mich besser vorbereitet“, sagte Gill und zog an dem nassen Stoff auf Fletchers Rücken. Angewidert bog Fletcher das Kreuz durch und machten einen Schritt nach vorne.

„Verdammt, ist das kalt.“

Bell ging an Gill vorbei und donnerte ihm ein zusammengelegtes Handtuch so heftig gegen die Brust, dass er zurücktaumelte. „Komm in die Hufe, Alter, sonst kannst du außen stehen und da zieht’s.“

Gill nahm das Handtuch und folgte Fletcher und Bell zum Duschraum. Einige Soldaten standen bereits in der miefigen Bretterbude. Schnell waren die verkrusteten Uniformen ausgezogen und ordentlich auf einen Haufen gestapelt, um sich bibbernd abzuschrubben.

„Verdammt“, grunzte Bell und biss die Zähne zusammen. „Machen die da Eiswürfel rein?“

Gill lachte. Das kalte Wasser störte ihn nicht. Er fror nicht leicht und da er es gewöhnt war, jeden Tag kalt zu duschen, weil Trevor früher aufstand als er und das ganze heiße Wasser verbrauchte, ertrug er die Verhältnisse mit Gleichmut.

„Bei deiner Masse solltest du das besser wegstecken, Alter“, äffte Fletcher Bells Sprechweise nach und warf die Kernseife nach ihm.

„Alles nur Muskeln“, antwortete Bell und fing den glitschigen Brocken gekonnt auf. Er wackelte mit den Augenbrauen und wedelte mit der Seife. „Und Footballtraining.“

„Und unser Unihäschen ist ganz in seinem Element“, zwinkerte Fletcher, der trotz seines lässigen Auftretens schon blaue Lippen hatte.

Gill zuckte mit den Schultern und schnappte sich sein Handtuch. Da tauchte neben ihm plötzlich eine nackte Gestalt auf, die er nur zu gut kannte. Er wollte lieber nicht daran zurückdenken, unter welchen Umständen er Samuel Moore das letzte Mal unten ohne gesehen hatte.

„Haige“, sagte Moore mit einem höhnischen Grinsen. „Spielst du auch mal wieder Soldat?“

Gill gab sich nicht den Anschein, als würde er das Arschloch mögen, und warf ihm nur einen geringschätzigen Blick zu, bevor er mit Bell und Fletcher in sein Zelt zurückging. Sie teilten es sich noch mit sieben anderen Soldaten, doch zum Glück war Moore nicht darunter.

„Blöder Wichser“, murmelte Fletcher, während er sich anzog. Gill war nicht der Einzige, der Samuel Moore schon in Aktion erlebt hatte.

„Ich find den Typen ja auch zum Kotzen, aber Leute, wen juckt, was der sagt?“, sagte Bell und streifte sich ein trockenes Shirt über.

Fletcher presste zornig die Lippen aufeinander und beschäftigte sich damit, seinen Schlafsack zu richten. Unschlüssig sah Bell zwischen ihm und Gill hin und her.

„Hat nichts mit dir zu tun“, sagte Gill und wischte sich über den Arm, als befände sich dort Schmutz.

„Hab ich was verpasst?“

„Warst du nicht auch im Kampfeinsatz mit Moore?“, fragte Gill.

Bell nickte und zuckte dann mit den Schultern. „War nicht viel los da drüben.“

„Sowas erlebt man nur einmal“, sagte Fletcher und warf Gill einen vielsagenden Blick zu. Gill fühlte, wie sich in seinem Kopf eine Welle an Gedanken aufbaute und über ihn hinweg branden wollte. Die Gerüche, die Schreie, der Wahnsinn … Er brach den Blickkontakt ab und rieb sich seufzend über den Nacken. Sie hatten getan, was sie konnten. Wenn ihre Vorgesetzten die Vorfälle ungestraft ad acta legten, konnte sie nichts daran ändern.

„Was war denn los?“ fragte Bell.

„Das willst du nicht wissen“, sagte Gill und sein Tonfall, der keine weiteren Nachfragen zuließ, beendete das Gespräch.

*

Rebecca stand in der Eingangshalle eines großen Pharmakonzerns. Der marmorierte Boden glänzte im Sonnenlicht, das durch die großen Glasfronten fiel. Männer und Frauen in Businessanzügen liefen kreuz und quer durch den Raum, sie alle wirkten wahnsinnig beschäftigt. Niemand achtete auf sie.

Rebecca hatte sich dem Empfangstresen zugewandt. Die automatische Eingangstür lag in ihrem Rücken. Als diese sich öffnete, spürte sie, wie ihre Instinkte ihr Tierchen mit tausend Füßen über die Wirbelsäule krabbeln ließen. Sie konnte den Atem des Raubtiers in ihrem Rücken förmlich spüren. Doch sie durfte sich nicht umdrehen, wenn es nach einer zufälligen Begegnung aussehen sollte. Er durfte nicht erfahren, dass sie nur seinetwegen heute hierhergekommen war. Es musste so aussehen, als wäre sie auf der Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz. Da sie kurz vor ihrer Abschlussprüfung stand, war das nicht unwahrscheinlich.

Diese Firma hatte ihr schon unzählige Male eine Stelle angeboten und versucht, ihre Forschungsergebnisse zu kaufen. Es war allgemein bekannt, dass sie funktionstüchtige Nanobots entwickelt hatte, die kleiner waren, als alles bisher Dagewesene, und ihre erste Versuchsreihe zur Umprogrammierung von Molekularstruktur war erfolgreich verlaufen. Sie konnte mit ihren kleinen Schützlingen quasi Wasser in Wein verwandeln und Rebecca wusste, dass ihre Bots auch dazu fähig waren, DNA zu verändern. Allerdings hatte sie Versuche an lebenden Subjekten abseits der Pflanzen strikt abgelehnt.

Aber es gab einen viel triftigeren Grund, ausgerechnet bei dieser Firma einen Termin zu haben. Aus zuverlässiger Quelle wusste Rebecca, dass Malcom Addison, ein Aktionär von Genetics aus London an diesem Tag ein Meeting mit dem Vorsitzenden hatte. Interessant daran war, dass Addison ebenfalls ein Spezialist für Nanotechnologie war. Außerdem saß er im Aufsichtsrat von Genetics und obwohl er ihm nicht vorstand und auch sonst wenig Ambitionen zeigte, die Geschicke der Firma zu lenken, war er Haupteigner und Hauptfinanzier. Rebecca nahm an, dass er den forscherischen Freiraum, den ihm der Konzern bot, für seine privaten Interessen nutzte. So wie Menschen es gerne handhabten, die zu viel Geld hatten, um damit noch etwas Sinnvolles anzufangen.

Sollte Genetics trotz Rebeccas Vorstrafen immer noch hinter ihren Forschungen her sein, war dieser Mann die beste Chance, sich von Genetics anwerben zu lassen. Sie konnte nur hoffen, dass er sie erkannte. Dann galt es, hoch zu pokern. Alles, was sie wollte, war Zugang zum Genetics-Komplex in London.

„Miss Meo“, erklang eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und stand einem älteren Mann und zwei schwarz gekleideten Bodyguards gegenüber. Addison hatte den Köder geschluckt. Mit flauem Gefühl im Magen faltete sie ihre schwitzenden Hände und sah ihn fragend an.

Er war kein besonders großer Mann und sah genauso unscheinbar aus, wie auf den Bildern, die sie von ihm gesehen hatte. Sein Haar war bereits ergraut, aber ordentlich und modern geschnitten. Seine Nase war spitz, das Gesicht vielleicht ein wenig zu lang. Das einzig Auffällige waren seine Augen. Auf den Fotos konnte man den Eindruck gewinnen, er sei blind oder hätte keine Iris. Ein kleiner schwarzer Knopf stach aus einem perlmuttfarbenen Ring hervor, der nur von Nahem zu erkennen war.

Rebecca wartete höflich ab und tat, als durchforste sie ihr Gedächtnis. Es schien zu klappen, denn Addison machte eine nachsichtige Miene und reichte ihr die Hand, als würde ihm gar nicht auffallen, dass sie ihn angeblich nicht erkannte.

„Wie außergewöhnlich, Sie hier zu treffen“, sagte er. „Ich hörte, Sie wären zurzeit mit ihren Forschungen beschäftigt und kaum außerhalb der Uni unterwegs.“

Sie lächelte weiter nichtssagend und hoffte, dass er nicht merkte, wie sehr ihr Puls raste. „Ja, das stimmt auch“, erwiderte sie und betrachtete Addisons Begleiter. Zum einen hielt es den Schein aufrecht, als wüsste sie nicht, wer Addison war und versuchte Hinweise auf seine Identität zu finden, zum anderen wollte sie einschätzen, mit wem sie es zu tun hatte. Die beiden Männer in Addisons Windschatten sahen genauso aus wie jene, die auf dem Flughafenfoto mit Elli zu sehen waren. Namenlose in schwarzen Anzügen, die Augen von Sonnenbrillen verdeckt. Fast wartete Rebecca darauf, dass sie ihr ‚Blitzdings‘ zückten.

„Sind Sie doch neugierig auf das geworden, was wir ihnen hier draußen zu bieten haben?“, fragte Addison.

Rebecca machte ein nachdenkliches Gesicht, als versuchte sie, Addison in der langen Reihe der Bewerber unterzubringen, die ihr einen Job angeboten hatten. „Nun, das Studium dauert nicht mehr ewig“, sagte sie. „Irgendwann muss ich mich umsehen. Theorien alleine bringen kein Geld.“

„Na, na“, sagte Addison. „Sie sind über den Stand eines Theoretikers doch längst hinaus. Ich war äußerst angetan von dem mikroskopischen Bild Ihrer Arbeit.“

Es erstaunte sie nicht, dass Fotos ihrer Nanobots in Umlauf waren. Irgendwie schafften es Informationen aus den Unilaboren heraus. Aber die wichtigsten Details verwahrte sie persönlich und ließ auch ihre Kollegen keinen Blick darauf werfen.

„Sie kennen sich auf dem Gebiet aus?“ Natürlich wusste sie von seinen profunden Kenntnissen, aber das musste man ihm ja nicht gleich auf die Nase binden. Wenn sie richtig vermutete, war Addison selbst Herr einer Nanobotarmee und Genetics hatte statt von Rebeccas Genie, von seinem gezehrt. Wahrscheinlich hatte Elli sogar mit diesem Mann zusammengearbeitet oder zumindest mit seinen Schöpfungen.

Addison nickte und lächelte großväterlich. „Wir sollten uns bei Gelegenheit mal zusammensetzen. Bislang haben Sie eine Anstellung bei uns ja rigoros abgelehnt, aber wenn Sie nun offen für neue Wege sind …“ Er sagte kein Wort zu Rebeccas Tagen als Stalker seiner Mitarbeiter. Dennoch war sie sich sicher, dass er davon wusste. Er zückte eine Visitenkarte, die ihr die Peinlichkeit ersparen sollte, nach seinem Namen zu fragen, und Rebecca tat, als fiele der Groschen endlich.

Mit einem Räuspern überspielte sie die vorgetäuschte Erkenntnis und ergriff Addisons dargebotene Hand.

Er hielt ihre Finger einen Augenblick zu lange fest und sah ihr dabei tief in die Augen. Offensichtlich suchte er nach der störrischen Verrückten, die ihre verlorene Schwester gesucht hatte. „Verstecken Sie sich nicht wieder zu lange in ihrem Labor und rufen Sie mich an“, sagte er dann und ließ sie los. „Wir könnten zusammen viel erreichen.“

Sie machte ein Gesicht, als würde sie sich über die Aufmerksamkeit freuen. „Vielen Dank“, sagte sie höflich und sah Addison und seinen Schergen zu, wie sie im Aufzug verschwanden. Erst als sich die Türen schlossen, stieß sie erleichtert die Luft aus.

Fragend sah die Empfangsdame zu ihr auf. „Ist Ihnen nicht gut?“

„Doch, doch.“, beeilte sich Rebecca zu erwidern. „Alles bestens.“

12

Neun Monate vor Ausbruch

Mit einem flauen Gefühl im Magen verließ Rebecca den Gepäckbereich des Flughafens und zog ihren Trolley an den Wartenden hinter der Absperrung vorbei. Unter ihrer Haut prickelte es, während sie die Menge mit den Augen streifte. Die große Halle war von den Geräuschen zahlreicher Menschen erfüllt, im Hintergrund konnte Rebecca Flieger starten und landen hören. Immer wieder dröhnte eine Stimme durch die Lautsprecher, um Ansagen zu machen, doch bei der Geräuschkulisse war kaum die Hälfte zu verstehen. Auf Anzeigetafeln sprangen Lichter hin und her und wenn sich die Daten eines Fluges änderten, erklang das vertraute Klackern der Schriftplättchen.

Als Rebecca unter den Familienangehörigen, Freunden und Geschäftsleuten drei Männer in schwarzen Anzügen entdeckte, die ein Schild mit ihrem Namen hochhielten, musste sie das Bedürfnis niederkämpfen, sich einfach umzudrehen und zurückzufliegen.

Trotz der Sonnenbrillen, die die Augen der fremden Männer bedeckten, spürte Rebecca, dass sie sie gesehen hatten. Während neben ihr ein Mann mit roten Rosen in der Hand seine Frau umarmte und ein altes Pärchen in schrillen Jacken ihre lachenden Enkelkinder begrüßte, traten die monochromen Gestalten beiseite. Einer nahm Rebecca das Gepäck ab und ohne dass ein einziges Wort verloren wurde, führten sie sie in Richtung Ausgang.

Rebecca musste an das Bild der Überwachungskamera denken, das sie hierher geführt hatte. Es war, als wiederholte sie Ellis Schritte und sie fragte sich, ob diese Männer die gleichen waren, die auch ihre Schwester aus dem Flughafengebäude eskortiert hatten?

Als sie die automatischen Türen erreichten, sah sich Rebecca in einem Anflug von Panik nach dem Sicherheitspersonal des Flughafens um. Zwei bewaffnete Wachleute standen nur ein paar Meter entfernt bei einem Imbiss und redeten mit einem Reisenden. Einer von ihnen warf einen flüchtigen Blick in seine Papiere. Dann schloss sich die Tür hinter Rebecca und sie sah zu einer schwarzen Limousine, die direkt vor dem Eingang im Halteverbot stand. Der eine Anzugträger verstaute ihren Koffer im Heck des Wagens und setzte sich dann auf der rechten Seite hinter das Steuer. An den Linksverkehr würde sich Rebecca gewöhnen müssen, allerdings ging sie nicht davon aus, dass sie bald dazu gezwungen sein würde, ein Auto zu fahren.

Einer der beiden übrigen Männer – sie taufte sie in Erinnerung an den Film ‚Men in Black‘ auf die Namen J und K – öffnete ihr auffordernd die Tür. Sie atmete tief durch und stieg ein. J und K folgten ihr. Für einen Augenblick konnte sie K’s Handfeuerwaffe sehen, der sie in einem Halfter unter seiner Jacke trug.

Sie war froh, dass es zwei Bänke im Fahrgastbereich gab, so dass sie sich nicht zwischen die beiden quetschen musste und am Fenster sitzen konnte.

Der Fahrer ließ die Trennwand hochfahren und sie rauschten Richtung Highway davon.

Rebecca betrachtete die Straßen und Menschen durch die getönten Scheiben. Ein roter Doppeldeckerbus fuhr an ihnen vorbei und sie überholten eines dieser traditionellen Taxis, deren Türen nach hinten aufgehen. Der Himmel war klar an diesem warmen Frühlingstag, die Sonne glitzerte auf der Themse. In der Ferne war das London Eye zu erkennen.

Die gesamte Fahrt über herrschte eisiges Schweigen und eigentlich war es Rebecca ganz recht. So hatte sie Zeit, sich Gedanken über ihre nächsten Schritte zu machen. Bislang hatte Addison ihr kaum Informationen gegeben, da die Geheimhaltungsprotokolle sehr streng waren. Das machte es ihr schwer, vorauszuplanen. Die Sorge schnürte ihr regelrecht die Kehle zu.

In Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, wie der Wagen abbog und die Wohnhäuser einem Geschäftsviertel wichen. Erst, als die Limousine plötzlich anhielt und die Men in Black ausstiegen, sah sie auf.

Eine junge Frau setzte sich an ihrer Stelle zu Rebecca auf die Rückbank. Sie trug eine seltsame Uniform, die eher an einen Kampfanzug erinnerte. Die Farbe war undefinierbar. In einem Augenblick schien der Anzug grau zu sein, im nächsten grün oder blau. Der ständige Farbwechsel machte es unmöglich, sich auf die Kleidung zu fokussieren. Das Haar der Fremden war weißblond und zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden, die Augen von spiegelnden Sonnenbrillengläsern bedeckt. Sie nickte Rebecca höflich zu.

Die drei Anzugträger entfernten sich vom Wagen und stiegen in ein anderes Fahrzeug, um sich wieder in den Straßenverkehr einzuordnen.

Rebecca hörte die Fahrertür zuschlagen und spürte, wie der Motor ihres Wagens wieder gestartet wurde. Dann schob er sich über die Bordsteinkante und fuhr durch das Tor eines hohen Metallzaunes. Kameras sicherten diesen Bereich und sobald sie passiert hatten, schlossen sich die eisernen Torflügel. Abweisend ragten die Spitzen des Zauns in den wolkenlosen Himmel.

Die Limousine fuhr einen kurzen Kiesweg entlang auf ein klassizistisches Gebäude zu. Dann wurde es dunkel, als sie durch ein geöffnetes Rolltor in eine Halle glitten. Irritiert rutschte Rebecca näher zum Fenster und wandte den Kopf, um besser sehen zu können. Es hatte den Anschein, als wären sie mit dem Auto in die Eingangshalle des Gebäudes gefahren. An den großen Fenstern zur Straße hingen Vorhänge, der Boden war von Mosaikkacheln bedeckt. Breite Treppen mit verzierten Geländern schlängelten sich zu einer Galerie hinauf und schwere Holztüren gingen von der Halle zu anderen Räumen ab.

Dann sah Rebecca genauer hin. Kein Licht fiel unter den Schwellen der Türen hindurch, als wäre dahinter nichts und die Aussicht aus den Fenstern war prachtvoll, doch auch sie wirkte irgendwie falsch, wie aufgemalt. Der Lichteinfall war anders als draußen. Als stünde die Sonne weiter südlich. Doch durch die getönten Scheiben konnte sie nicht prüfen, ob das Licht echt oder künstlich war, und so sank sie mit bleiernem Magen zurück in den Sitz. Ein zweites Rolltor öffnete sich auf der anderen Seite der Halle. Eine bekannte Frauenstimme hallte zwischen den Wänden wider.

„Sie verlassen den Sicherheitsbereich. Stellen Sie das Fahrzeug in dem Ihnen zugewiesenen Bereich ab.“

Rebecca senkte den Kopf und knirschte mit den Zähnen, während sie versuchte, nicht daran zu denken, wie oft diese Frau ihr mitgeteilt hatte, dass es keine Gabriella Meo unter den Angestellten von Genetics gab.

Als sich der Wagen wieder in Bewegung setzte, versuchte Rebecca, diejenige in der großen Halle ausfindig zu machen, zu der die Stimme gehörte. Vielleicht gab es einen schwer einzusehenden Kontrollraum? Doch da war niemand. Nur ein paar Kameras mit rot blinkenden Lichtern. Überrascht fuhr Rebecca hoch, als sie daneben ein Geschütz aus der Wand ragen sah. Der Lauf zeigte nach unten, als wäre es im Augenblick nicht aktiv.

Dann waren sie vorbei und das Fahrzeug bog auf eine breite Straße ein. Sie fuhren nicht weit, so dass Rebecca nur ein paar wenige Fassaden sehen konnte. Die Gebäude bestanden hauptsächlich aus verspiegeltem Glas.

Als sie auf einem Parkplatz anhielten und sie endlich austeigen konnte, stellte sie fest, dass alles gleich aussah. Sie hatte das Gefühl, geschrumpft worden zu sein und in einer sauberen, frisch bemalten Architektenminiatur zu stehen. Es gab keine Risse im Asphalt oder Schmierereien an den Wänden. Nichts wirkte abgenutzt oder vom Wetter verschlissen. Die modernen Hochhäuser waren von breiten Stufen gesäumt und akkurat geschnittene Bäume und Büsche machten den Eindruck des futuristischen Modellbaus perfekt.

Allerdings blieb Rebecca nicht viel Zeit, sich genauer umzusehen. Auf der Fahrerseite ihres Wagens stieg ein Mann aus, der die gleiche Uniform anhatte wie die Frau, die hinten mitgefahren war. Auch er trug eine verspiegelte Sonnenbrille. Zwei weitere Männer in Science-Fiction-Kampfmontur näherten sich dem Fahrzeug. Statt Brillen trugen sie Helme, die den ganzen Kopf umschlossen. Sie übergaben Rebeccas Begleitern Maschinengewehre, von denen sie selbst welche über der Schulter trugen. Auch wenn alle vier die Waffen so hielten, als trügen sie sie lediglich aus Sicherheitsgründen, trat Rebecca einen Schritt zurück. Es war, als leuchteten die rotblinkenden Kameras und die flankierenden Geschütze plötzlich auf.

Verschreckt stellte sie fest, dass sie überall waren. Jede Straße, jeder Winkel wurde überwacht und befand sich im Schussfeld. Die Menschen, die hier arbeiteten, störten sich anscheinend nicht daran. Die meisten waren in Laborkitteln unterwegs. Dann entdeckte Rebecca ein offenes Fahrzeug, das an ihnen vorbeifuhr. Die vier Leute darin trugen gelbe Schutzkleidung und Atemmasken, wie es in Laboren üblich war, die mit biologisch gefährlichen Substanzen arbeiteten. Mit offenem Mund sah sie dem Wagen hinterher und hörte vor lauter Elend erst beim zweiten Mal, dass sie mit Namen angesprochen wurde.

„Lassen Sie sich davon nicht einschüchtern“, sagte Addison freundlich, als sie sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm umwandte. Sie schluckte schwer. Honigsüß lächelnd breitete er die Arme aus wie ein alter Freund, der sie umarmen wollte, tat es aber nicht. Rebecca bekam das beklemmende Gefühl, einer Spinne ins Netz gegangen zu sein.

„Schön, dass Sie endlich da sind.“

Der Fahrer ihres Wagens beugte sich zu ihm. Rebecca konnte nicht verstehen, was er sagte, war aber froh, dass die vier Bewaffneten abzogen, als Addison ihnen ein ungeduldiges Handzeichen gab. Die Frau mit dem hellen Haar sah Rebecca an und lächelte aufmunternd, als wüsste sie, wie bestürzt Rebecca über die einschüchternde Bewaffnung war. Dann ging auch sie.

Einladend wies Addison auf das nächststehende Gebäude. Auch hier gab es die breiten, weißen Stufen. Sie verschwanden in den Schatten des zurückverlagerten Eingangsbereichs. Doch nur der Mittelteil der Treppe war begehbar. Über die Seitenbereiche floss leise plätschernd klares Wasser und sammelte sich in schmalen Becken, die um das ganze Gebäude herumführten. Das Sonnenlicht glitzerte auf dem Wasser und als Rebecca nach oben sah und den Himmel erblickte, stellte sie fest, dass die Sonne hier an der richtigen Stelle stand. Folglich war nur das Licht in der Durchgangshalle künstlich und die Fenster ein Fake.

Wahrscheinlich war der Komplex rundherum von der übrigen Stadt abgeschnitten und nur nach oben hin zugänglich. Wie sie wohl verhinderten, dass ihr Luftraum durchquert wurde? Immerhin hatten sie sehr strenge Sicherheitsbestimmungen, da wäre ein Nachrichtenhubschrauber gewiss nicht willkommen.

Addison lächelte wissend, als sie ihn wieder ansah, deutete aber immer noch in Richtung Gebäude. Anscheinend wollte er im Augenblick noch keine Fragen beantworten.

Rebecca folgte ihm in das Hochhaus hinein und fand sich in einer weitläufigen Eingangshalle wieder, die sie an ein Hotel erinnerte. Nur, dass es keine Pagen oder andere Gäste gab, die in den bequemen Sesseln in den Sitzecken um die Säulen herum saßen. Aber es gab eine Rezeption, leicht zu pflegende Palmengewächse, einen Fahrstuhlbereich im hinteren Teil und Wasserbecken mit Fischen, die zu beiden Seiten des Eingangs lagen. Hinter der blankpolierten Marmortheke der Rezeption stand ein Mann, dessen Haut so grau war, dass Rebecca ihn im ersten Moment für eine alte Wachsfigur hielt. Er hatte die Hände vor sich gefaltet und verharrte bewegungslos an Ort und Stelle. Erst, als Addison Rebecca in Richtung der Fahrstühle an ihm vorbeiführte, sah sie, dass sein Blick sie verfolgte. Der Concierge nickte ihr unmerklich zu und gebannt erwiderte sie die Geste.

„Das ist Bob“, sagte Addison und Rebecca musste sich beherrschen, nicht laut loszulachen.

Ernsthaft? Bob?

„Wir befinden uns hier im Wohndistrikt“, fuhr er ungerührt fort. „Die Häuser im Umkreis sind allesamt Wohneinheiten. Ich dachte, sie wollen vielleicht als erstes ihre Unterkunft ansehen.“

„Sicher“, sagte Rebecca und folgte Addison in den Fahrstuhl.

Wozu werden die Geschütze im Wohnviertel benötigt?

Addison drückte auf den Knopf zum achten Stock und blickte schweigend auf die Tafel, während der Fahrstuhl losfuhr. Rebecca merkte nicht einmal, als er wieder anhielt. Der Flur, den die Fahrstuhltüren freigaben, war mit einer unscheinbaren, roten Auslegware bedeckt und mit Gold verbrämte Lampen hingen an der cremefarbenen Wand. Rebecca strich mit den Fingern ehrfurchtsvoll über die teuer aussehende Strukturtapete.

„Da wären wir.“ Addison lächelte und ließ Rebecca den Vortritt.

Sie betrat ein großes Studio, dessen einzelne Bereiche durch geschickt gestellte Möbel getrennt wurden. Hinter der Tür lag der Eingangsbereich. Ein paar rote Sessel luden dazu ein, sich dort die Schuhe abzustreifen und der Schrank sah der Wand so ähnlich, dass Rebecca ihn zuerst gar nicht sah. Der Küchenbereich war von einem Tresen abgegrenzt, der mit der gleichen Arbeitsplatte abgedeckt war wie die Schränke, so dass sie eine nahtlose Fläche bildeten. Davor umgaben dunkelrote Sofas den Wohnbereich, zu dem auch eine Anlage, einige leere Bücherregale und eine Multimediaecke gehörten. Der Arbeitsbereich bestand aus einem wuchtigen Schreibtisch, auf dem sich ein Computer befand, und japanische Paravents standen zusammengeklappt zu beiden Seiten. Die Tür dazwischen musste ins Schlafzimmer führen.

Der gesamte Fußboden war mit dunklem Parkett verkleidet.

„Meine Wohnung?“

„Für unsere Mitarbeiter nur das Beste.“ Er sagte es so, dass klar war, dass nicht jeder x-beliebige Laborant in den Genuss einer solchen Unterbringung kam.

Mit großen Augen sah sie sich um und warf einen Blick in ihr Schlafzimmer. Außer einem Futon und einem Plasmabildschirm war es leer. Ihre Kleider konnte sie in einem begehbaren Wandschrank unterbringen. Das Bad daneben war groß und luxuriös. Es gab eine riesige Dusche mit Düsen an allen vier Wänden und eine dreieckige Badewanne mit Whirlpool-Funktion.

Addison wartete im Eingang. Nach einer Weile verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und begann ungeduldig zu wippen.

„Wirklich sehr schön“, sagte Rebecca und kam zu ihm zurück. „Und wann werde ich meinen Arbeitsplatz ansehen können?“

„Wir Wissenschaftler sind Arbeitstiere“, sagte er, zufrieden mit ihrer Einstellung, und tätschelte ihr beruhigend den Arm. „Aber ich fürchte, es gibt noch einige formale Dinge, die erledigt werden müssen, bevor Sie anfangen können.“