Leseprobe „Gefesselt 2“

3

96 Stunden nach Ausbruch

Die Explosion kam vollkommen überraschend. Gerade noch saß sie in ihrem Labor und stritt sich mit Malcom über die schleppenden Fortschritte bei der Generierung von HAB und im nächsten Augenblick flogen ihr die Splitter der berstenden Scheiben um die Ohren. Ein scharfer Schmerz am Hals, dann warf die Wucht der Druckwelle sie zu Boden. Papier regnete auf sie herab. Sie brauchte einige Momente, bevor sie realisiert hatte, was gerade geschehen war.
Elli!
Tränen stiegen ihr in die Augen und der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, aber sie hatte keine Zeit, sich gehen zu lassen.
Es hat begonnen.
Malcom, der neben ihr auf dem Boden gelandet war, rappelte sich stöhnend auf. Rebecca stützte sich auf ihre Hände und stemmte sich hoch. Dann lief sie benommen über knirschende Scherben zu den gesplitterten Fenstern. Heißer Wind, Asche und glühende Funken wehten ihr entgegen. Am Horizont erhob sich eine Feuerwand, schwarzer Rauch blockierte die Sicht. Doch Rebecca besaß genug Vorstellungskraft, um die Zerstörung vor ihrem geistigen Auge sehen zu können. Sie konnte nur hoffen, dass es Elli direkt zerschlagen oder zerrissen hatte. Es wäre unvorstellbar, wenn sie im Feuer langsam verbrannte. Rebecca schüttelte sich.
„Wie konnte das passieren?“ Malcom war wie gelähmt und starrte in den grauen Qualm, hypnotisiert vom Glühen dahinter. Es sah wie ein Sonnenuntergang aus, nur das Flackern des orangeroten Lichts zerstörte die Illusion. Dann kamen die ersten Menschen aus Richtung Distrikt 1 angerannt. Sie waren rußverschmiert, einige bluteten, wo sie von herumfliegenden Trümmerteilen getroffen worden waren. In ihren Gesichtern stand das blanke Entsetzen. Rebecca wischte sich die feuchten Hände an ihrem Kittel ab und sah zu Boden. Sie wollte das nicht sehen, auch wenn es feige war. Doch der mangelnde optische Reiz, als sie auf Papierfetzen und Splitter blickte, ohne sie wirklich wahrzunehmen, verstärkte bloß die Eindrücke der Geräusche. Sie hörte Sirenen und Schreie. Manche waren aufgeregt und versuchten, sich über den tosenden Lärm der Feuersbrunst und einiger Folgeexplosionen etwas zuzurufen, andere klangen panisch und die von der Entfernung gedämpften Stimmen waren angereichert mit Qual und Schrecken. Rebecca raffte ihren Kittel vor der Brust, unfähig hinzusehen. Ihre Hand ballte sich zur Faust, knüllte den weißen Stoff fest zusammen und presste sich schmerzhaft gegen ihr Brustbein. Da meinte sie, zwischen den Schreien seltsame Laute zu hören, die ihr eine Gänsehaut auf die Arme strichen.
„Was ist das?“
Malcom machte eine vage Geste in Richtung Distrikt 1. „Ein Anschlag würde ich sagen.“
„Das meine ich nicht.“ Sie versuchte, die merkwürdigen Geräusche herauszufiltern, aber der zunehmende Lärm auf der Straße störte sie. „Dieses Heulen.“
„Sirenen vielleicht.“ Der Vorschlag war nur halbherzig hervorgebracht. Seine geweiteten Augen, die hin und her sprangen, deuteten auf etwas anderes hin. In der Verwirrung der Explosion hatte Rebecca Xanthippe kurz vergessen. Ein heißer Schauer rann ihre Glieder entlang.
„Wie weit hat sich die Infektion ausgebreitet?“, fragte sie benommen. Hatte die Regierung den Zeitpunkt verpasst, den Tunnel zum Festland zu schließen? War Xanthippe schon dort draußen?
Malcom wedelte genervt mit den Händen. „Das kann nicht sein. Ich habe die Berechnungen selbst durchgeführt.“
Beunruhigt verfolgte Rebecca, wie sich sein ärgerlicher Ausdruck in Unsicherheit verwandelte.
„Nach der Abschottung konnte ich es nicht mehr abgleichen. Wozu auch?“ Er sah wütend in Richtung der Explosionsherde. Die Hitze ließ Schweißperlen auf seiner Stirn glitzern. „Man würde doch meinen, dass diese Irren dann etwas anderes zu tun hätten, als Anschläge zu verüben. Um ihr wertloses Leben rennen zum Beispiel.“
Paralysiert beobachtete Rebecca, wie ein brennender Stofffetzen am gesplitterten Fenster vorbeisegelte. Beißender Qualm brannte ihr in der Nase.
„Nun“, sagte Malcom und richtete sich auf. Sein kalkulierendes Hirn hatte alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen und war zu einem Schluss gelangt. Er zog das Revers seines Kittels straff und wandte sich um. „Ich werde das prüfen.“
Stumm sah Rebecca ihm nach, als er eiligen Schrittes das Labor verließ. Er wagte nur einen kurzen Blick zurück zu ihr, als er in die falsche Richtung abbog und statt in Richtung Büro zu den Fahrstühlen eilte. Die einzige Rechnung in seinem Kopf war die Zeit, die ihm blieb, in den Panikraum in seinem Wohnhaus zu gelangen. Was er in seine Berechnungen nicht mit einschloss, war der Faktor, dass Rebecca diesen Bereich vom Netz nehmen würde.
Die Erinnerung an ihre Pläne riss sie aus ihrer von Kummer und Schrecken durchzogenen Lethargie. Sie hatte eine Aufgabe, folgte einem Plan. Wenn sie es nun auch noch mit Infizierten zu tun bekommen würden, sollte sie sich lieber beeilen. In plötzlicher Hektik eilte sie in ihr HAB-Labor und rannte zum Alkoven.
Die Invitros standen am Panoramafenster. Es war bei der Explosion nicht zu Bruch gegangen, bestand aus verstärktem Sicherheitsglas, um Selbstmorde von Probanden zu verhindern. Als die Invitros Rebecca bemerkten, wandten sie sich zu ihr um. Bear kam bis an die Trennwand. Sie musste einen schlimmen Anblick bieten mit ihrem schmutzigen Gesicht, dem zerknitterten Kittel und dem Blut an ihrem Hals.
„Ist es so weit?“, fragte er.
„Ja. Leider haben wir weniger Zeit, als wir wollten.“ Sie strich sich Schweiß aus den tränenden Augen, während sie energisch auf das Eingabefeld tippte.
„Xanthippe?“
„Ich fürchte ja. Habt ihr alles vorbereitet?“
„Alles was ging.“
Sie sah ihn kurz über die Bildschirme hinweg an. Zweifel darüber, ob sie diesen Leuten wirklich vertrauen konnte, wallten in ihr hoch. Sie war keine von ihnen und auch, wenn sie sich einander gegenüber höflich verhielten, waren sie diejenigen, die bisher auf der Seite der Gequälten gestanden hatten. Wenn sie ihnen jetzt tatsächlich die Macht gab, ihr Schicksal in diesem Chaos selbst zu bestimmen, würden sie sich vielleicht auch gegen sie wenden. Werkzeuge erfüllten ihren Zweck und konnten dann weg. Aber selbst wenn sie jetzt sterben würde, dann zumindest in der Gewissheit, das Richtige getan zu haben. Sie rieb sich über die Brust und spürte das Loch, das Elli hinterlassen hatte. Bear sagte die ganze Zeit über nichts, wartete einfach ab, wie sie sich entscheiden würde.
Ihr Zeigefinger verharrte über der Taste, die die Invitros freisetzen würde. Dann tippte sie drauf und entließ die Nanos, die für sie die KI täuschen würden, um die Sicherheitsprotokolle zu umgehen. Linien rannen die Trennwand hinunter. Wo sie sie teilten, entstanden schmale Spalten. Bear trat zurück. Keinen Augenblick später drehten sich die Glaspaneele und öffneten den Raum. Dann glitten sie wie Gespenster die Deckenschiene entlang und stapelten sich in der Senkrechten an der hinteren Wand.
Die Anspannung im Labor war greifbar. Dann fragte Bear: „Was kannst du uns sagen?“
Rebecca atmete durch und tippte wieder auf ihren Eingabefeldern herum. „Nicht viel.“ Sie versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das von ihr Besitz ergreifen wollte. „Malcom hat sich aus dem Staub gemacht und flüchtet wahrscheinlich zu seinem Panikraum. Seine Reaktion bestätigt meinen Verdacht, dass die Infektion bereits in London um sich gegriffen hat. Das heißt wohl, dass der Eurotunnel nicht gesprengt wurde oder dass Xanthippe irgendwie anders den Kanal überquert hat.“
„Das könnte auch zu unserem Vorteil sein. Wenn die Gesecos sich mit den Infizierten herumschlagen müssen, haben wir mehr Zeit, unseren Bereich zu sichern.“
Rebecca nickte. Das hatten sie mehrfach besprochen, als sie ihren Plan geschmiedet hatten. Doch wie sehr sich die Theorie von der Praxis unterschied, zeigte sich meist erst, wenn es so weit war. Sich Ellis Erlösung vorzustellen und die Bombe hochgehen zu sehen, waren zwei gänzlich unterschiedliche Erfahrungen.
Mittlerweile hatten die Invitros ihren Bereich des Labors verlassen und sich um den Alkoven geschart. Sie sahen sich unruhig um, als wäre es eine Falle, und jeden Moment würden Gesecos hereinstürmen, um sie wieder festzusetzen.
„Worauf warten wir?“, drängte die Katzenfrau. Die Wildkatze war deutlich in ihrer Stimme zu hören.
„Ja, worauf warten wir?“ Entschlossen stieß Rebecca den Atem aus. Sie hatten den Plan immer wieder durchgekaut und alles, was sie jetzt noch tun konnten, war, ihm zu folgen. „Ich gehe ins Büro und ihr kümmert euch um die Sachen hier. Die Verriegelungen sind alle gelöst. Wisst ihr, wo alles ist?“
Bear nickte und Rebecca trödelte nicht länger herum. Wenn sie die Menschen beschützen wollte, die ihr wichtig waren, dann konnte sie sich kein Zögern leisten. Sie hörte noch, wie Bear die Katzenfrau und den Morpher mit den Preisboxerhänden anwies, wer von ihnen was einpacken sollte. Dann stand sie auch schon vor ihrem Schreibtisch und sammelte die Unterlagen ein, die sie in den letzten Wochen zusammengetragen hatte. Sie schob die Ordner zusammen mit ihrem Laptop und den Nanokabeln in einen Rucksack, der leer in einer Schreibtischschublade auf diesen Tag gewartet hatte. Als sie glaubte, alles Wichtige eingepackt zu haben, sondierte sie noch einmal den Tisch und die halb offen stehenden Schubladen der Schränke, um sich zu vergewissern, dass sie nichts übersehen hatte. Dann schob sie den Bürostuhl beiseite und beugte sich über die Tastatur des Firmenrechners. Dieses Mal musste sie sich keine große Mühe geben, ihren Zugriff auf die gesperrten Bereiche zu verschleiern. Es spielte keine Rolle mehr, ob jemand den Sicherheitsverstoß entdeckte. Entweder sie würden heute gewinnen oder untergehen.
So schnell sie konnte, überprüfte sie den Infiltrationsstatus ihrer Nanos bei der KI. Da sie nicht so viel Zeit gehabt hatte, die Bots zu programmieren, als sie die Befreiung der Invitros und ihre Immunisierung gegen Xanthippe organisiert hatten, hatte sie ständig Furcht davor, dass etwas nicht so klappte wie vorgesehen. Nebenbei schnappte sie sich den Datenstick mit den Forschungsberichten über X, VAX und andere geheime Projekte. Die Pläne und das Handbuch für das Kraftwerk warteten in einer Rolle hinter ihrem Schrank.
„Bist du so weit?“ Bear lehnte sich zur Tür herein. „Wir müssen los.“
„Moment noch.“ Sie verfolgte die Datenströme auf dem Bildschirm. „Mist, das muss ich kurz noch manuell eingeben.“ Sie tippte mit rasender Geschwindigkeit Befehle ein. „Die Zellenbereich sind … offen. Automatische Waffensysteme … deaktiviert.“
Die Waffensysteme abzuschalten, behagte Rebecca nicht. Dadurch konnten die Infizierten ungehindert eindringen. Die Gesecos, die ihnen gegenübertreten mussten, taten ihr leid. Aber sie musste verhindern, dass die Waffensysteme gegen die Invitros gerichtet werden konnten. Sobald sie den Bereich kontrollierten, den sie für sich sichern wollten, würde Rebecca die Waffen wieder online bringen.
„Jetzt.“ Sie richtete sich ruckartig auf.
„Dann los, gehen wir.“
Sie lief zum Schrank und zerrte die Papprolle mit den Plänen des Kraftwerks hervor. Dann verließ sie mit den Invitros das Gebäude. Beißender Rauch schlug ihnen entgegen und ließ sie innehalten. Die Straßen glichen den Bildern, die sie aus Bürgerkriegsgebieten kannte. Fahrzeuge lagen umgekippt auf der Fahrbahn und überall häuften sich Asche und Müll. Ein kleiner Reinigungsroboter fuhr ständig im Kreis, als wüsste er nicht, wo er anfangen sollte.
„Komm weiter.“ Bear zog Rebecca vorwärts. Sie fühlte sich taub angesichts des Chaos, das sie angerichtet hatte. Wie viele würden heute ihretwegen sterben?
„Schnell, hierher“, fauchte die Katzenfrau, als eine Truppe Gesecos in ihre Richtung rannte. Während die Sicherheitsleute an der Seitenstraße vorbeistürmten, in der sich Rebecca und die anderen versteckt hatten, passten sich ihre Anzüge der Umgebung an und sie verschwanden.
„Na, das kann ja heiter werden“, murmelte der Morpher. „Wenn wir Pech haben, rennen wir direkt in so ’ne Truppe rein.“
„Weiter“, befahl Bear, als die Luft rein war. Sie rannten den Gehweg entlang und ignorierten eine Gruppe von Zivilisten, die alleingelassen vor ihrem Wohnhaus stand. Plötzlich glitt ein Schatten über sie hinweg, und als Rebecca nach oben sah, erkannte sie Icarus. Seine Flügel waren weit ausgebreitet und mit Leichtigkeit flog er ihnen voraus. Tauro und Selkie konnten auch nicht weit sein, aber wo blieb Lisette?
Das Kraftwerk kam in Sicht und auf dem Parkplatz herrschte bereits wildes Getümmel. Gesecos, die zum Schutz der strategisch wichtigen Einheit abgestellt worden waren, lieferten sich einen erbitterten Kampf mit Invitros. Die Sicherheitstruppen waren besser bewaffnet und unzählige Leichen mit Schusswunden pflasterten den Weg. Aber die Invitros waren zahlenmäßig überlegen und gewannen bereits die Oberhand. Icarus stürzte sich von oben auf einen Geseco und warf ihn einfach durch die Luft. Wieder am Boden rollte der Körper noch aus, dann blieb er regungslos liegen.
„So viele Tote.“ Rebecca schluckte, als Bear sie über die Leichen weiter Richtung Eingang des Kraftwerks zog. Ihre Füße trafen auf nachgebendes Gewebe und glitten vom Knochen eines schmutzigen Arms ab. Sie strauchelte, sah nach unten und gleich wieder weg, bevor sie sich übergeben musste. Icarus landete neben ihr, kurz bevor sie ins Innere traten. Auch andere der siegreichen Invitros schlossen sich ihnen an. Schon in der Eingangshalle kam ihnen Frank entgegen, der seine knorrigen Hände abwehrend erhoben hatte.
„Das ist ein abgesperrter Bereich“, erklärte er mit fester Stimme. „Keine Künstlichen.“
Ihm musste klar sein, dass es hoffnungslos war. Über die Kameras musste er gesehen haben, was im Komplex vor sich ging.
Rebecca sah ihn an. „Sie können bleiben oder gehen, Frank, aber das hier können Sie nicht aufhalten.“
Bear führte seine Leute an Rebecca und dem Leiter des Kraftwerks vorbei. Missbilligend sah er den Invitros nach.
„Das wird Folgen haben, Missi.“ Er drohte Rebecca mit dem Finger und trollte sich dann Richtung Ausgang. Rebecca wollte ihn aufhalten, doch der Morpher trat ihr in den Weg.
„Dafür bleibt keine Zeit. Er hatte seine Chance.“ In dem Moment betraten Tauro und Selkie das Kraftwerk.
„Habt ihr Lisette gesehen?“, fragte Rebecca sofort. Die beiden schüttelten die Köpfe.
„Verdammt.“ Rebecca wollte hinauslaufen, doch Tauro packte sie am Arm.
„Was hast du vor?“
„Ich geh sie holen, was sonst?“
„Und wer erledigt deine Aufgaben?“
„Das geht automatisch. Ich habe die nötigsten Eingaben schon in meinem Büro gemacht. Um die Gesecos müsst ihr euch bis auf Weiteres selber kümmern.“
„Ich werde Bear holen.“
„Tu das.“ Sie nutzte den Moment und entschlüpfte seinem Griff. Bevor er sie aufhalten konnte, war sie hinausgestürmt. Den Blick fest auf die gegenüberliegende Straße geheftet, spurtete sie zwischen den letzten Kämpfenden über die Toten hinweg. Sie schlidderte durch eine Pfütze, die nach Blut aussah, und unterdrückte ein Quieken, als rote, feuchte Spritzer auf ihre Hand trafen. Sie verwischte sie, ohne hinzusehen, und rettete sich zwischen die Gebäude. Die Wände dämpften den Tumult hinter ihr und sie lief weiter. In der Ferne waren Salven von automatischen Gewehren zu hören und abscheuliches Heulen. Kopflos rannten die Zivilisten und Wissenschaftler umher. Glasscheiben waren zerbrochen, brennende Autos verbarrikadierten die Straßen. Auch verwirrte Invitros waren unterwegs. In ihren dünnen Hemden und mit bloßen Füßen standen sie frierend da und blickten in den stahlgrauen Himmel.
Vollkommen unerwartet explodierte Schmerz in Rebaccas Gesicht. Sie wurde auf den Rücken geschleudert. Eine Hand legte sich um ihre Kehle und drückte zu. Sie spürte warmen Atem dicht an ihrem Ohr, als sich ein schwerer Körper auf ihre Brust kniete.
„Das warst du“, knurrte Reynell voller Wut. Er drückte heftiger zu und Rebecca hörte sich selbst röcheln. Die Augäpfel traten ihr aus den Höhlen.
„Ich habe die Spuren im Archiv gefunden“, sagte er. „Wer sonst sollte seine neugierige Nase da hineinstecken.“ Sein Körpergewicht presste ihr die Luft aus den Lungen. „Du hast dir meine Sicherheitskarte erschlichen und irgendwie eine Kopie gemacht. Ich wusste, dass an den Protokollen der letzten Wochen etwas faul war, kam aber erst heute drauf, was.“
Plötzlich war das Gewicht verschwunden und Rebecca rollte sich hustend zur Seite. Sie hörte, wie Reynell sein Gewehr lud.
„Hat es sich wenigstens gelohnt?“, fragte er geringschätzig. „Deine Schwester ist tot und wir werden auch alle draufgehen.“
„Wir konnten es nicht wissen“, würgte Rebecca hervor.
„Wir?“ Reynell trat näher heran und bohrte Rebecca den Gewehrlauf in die Seite. „War ja klar. Lisette, die elende Schlampe. Man kann den Estländern eben nicht vertrauen.“
Rebecca ließ den Kopf auf den Asphalt sinken.
„Also, was führst du im Schilde?“ Er lutschte geräuschvoll an seinen Zähnen, um nachzudenken. Rauch zog durch die Straßen.
„Ich sagte doch schon“, raunte Rebecca dem Pflaster zu. „Wir hatten keine Ahnung von der Seuche, bevor es zu spät war.“
„Aber ein schlaues Köpfchen wie deines brütet doch sicher etwas aus, wie ihr eure eigene Haut retten könnt und die deiner nutzlosen kleinen Haustierchen. Oder hast du etwa Todessehnsucht?“ Er drückte ihr den Gewehrlauf auf den Hinterkopf und imitierte einen Schuss. Rebecca zuckte zusammen. Am liebsten hätte sie geheult. Da erklang Lisettes Stimme und wie ein Geist trat sie aus dem Rauch.
„Reynell“, keuchte sie. Blut klebte auf ihrem Chass, dem Tarnanzug der Geseco, und in ihrem Gesicht. „Die Stellung würde überrannt.“
Anstatt ihr zu antworten, lächelte er nur gehässig. Lisette sah zu Boden und erkannte Rebecca. Doch bevor sie reagieren konnte, hatte Reynell sein Gewehr schon gehoben.
„Hasta la vista, Baby.“
Rebecca schrie panisch auf. Sie sah Lisette schon zu Boden gehen. Doch es erklangen keine Schüsse. Als wäre Lisette nur eine Projektion, flackerte ihr Körper und glitchte. Während zwei hektischer Wimpernschläge hatte sie sich hinter Reynell bewegt. Er schien damit gerechnet zu haben, drehte sich schon um, aber Lisette war schneller. Sie legte ihm ihre Hand auf das Schulterblatt und aus dem Handschuh ihres Chass jagte ein Energieimpuls, der Reynell wegschleuderte. Er blieb liegen.
„Du bist nicht cool genug für diesen Spruch“, sagte sie zu ihm. Dann wandte sie sich zu Rebecca um. „Bist du okay?“ Sie zerrte sie auf die Füße, sah sich kurz den Schnitt an ihrem Hals an. „Das müssen wir im Stützpunkt versorgen.“
„Halb so wild.“ Rebecca hustete. Stille kehrte ein, die eine Gänsehaut verursachte. Dann erklangen in der Nähe seltsames Geheul und Gekreische.
„Wir sollten verschwinden“, schlug Lisette vor. Das ließ sich Rebecca nicht zweimal sagen.