Leseprobe Schneerot

Der Weg zur Bhagaruma Lief war simpel. Sie mussten nicht einmal besonders vorsichtig sein. Das nächste Fest zur Ehrung der Lowa war noch ein paar Sonnenwanderungen hin, also hielt sich niemand bei den Lagerhäusern nahe dem Cyanal auf. Außerdem gab es bei den Hada keinen Diebstahl, selbst wenn die Hütten voll waren. Sie wussten alle um die Relevanz der Opfergaben und arbeiteten miteinander, nicht gegeneinander. Deshalb warfen die gehässigen Lowa kein Auge auf den Bay und so sollte es bleiben. Nur bei den Hütten der Wateko, die über die Bhagaruma Lief wachten, mussten sie einen Umweg gehen. Sie wollten nicht, dass jemand den Petu sah. Außerdem machten die glänzenden Schuhe von Juliano laute Geräusche auf den Stegen nahe der Brücke, als hätten sie Holzsohlen. Bei jedem seiner Schritte zuckte Rota zusammen. „Zieh die Schuhe doch aus.“
Er riss die Augen auf, als hätte sie vorschlagen, er solle über glühende Kohlen gehen. „Auf keinen Fall.“ Mit gerümpfter Nase musterte er den teils schlammigen Boden.
„Ich werde vorne vorbeigehen und die Wateko ablenken.“ Wite legte eine Hand auf ihre Tasche voller Heilmittel.
Rota hielt es für eine gute Idee. Sollte eine der Wachen gerade vor einer der Hütten unterwegs sein, würde Wite alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So konnten sie entspannt zwischen den Lagerhäusern verschwinden.
„Ich werde so tun …“
Rota unterbrach ihre Schwester ungeduldig. „Ich kann es mir denken. Los, geh. Wir sehen uns gleich wieder.“
„Wieso schleichen wir hier so rum?“, fragte Juliano.
„Möchtest du allen Hada Ado sagen?“ Rota zog herausfordernd die Augenbrauen hoch. „Ich habe keine Ahnung, was die Niambo machen, wenn sie erfahren, dass ein Petu hier ist. Sie können ja nicht wissen, dass du nicht bestiegen bist. Außerdem hast du selbst gesagt, dass unsere Völker Eodingsda … Zyklen keinen Kontakt mehr miteinander hatten. Ich denke, es ist besser, wenn du ohne Aufsehen nach Hause gehst.“
„Bestiegen!?“ Er zog schockiert die Mundwinkel nach unten und riss die Augen auf.
„Wie nennt ihr es denn, wenn die Lowa in euch fahren?“
„Ihr spinnt doch alle.“ Mehr sagte er nicht.
Rota war es recht. Sie konnte nicht wissen, ob nicht doch jemand zwischen den Hütten herumlief. Sie gingen eilig über die Holzstege und sie spitzte die Ohren. Doch außer Julianos lauten Schritten und den üblichen Geräuschen aus dem umliegenden Wald war nichts zu hören.
Dann stand sie plötzlich am Cyanal. Etwas enttäuscht stellte Rota fest, dass es einfach das Meer war. Keine Steinhäuser, keine Stadt, die in der Entfernung glitzerte. Stattdessen hing ein Schleier über dem Ozean, der die Sicht beschränkte und keines seiner Geheimnisse preisgeben wollte.
Juliano schien ihr Bedauern zu spüren. „Bei klarem Wetter könnten wir Seren Issima sehen.“
„Wirklich?“, fragte die hoffnungsvoll. Vielleicht sollte sie noch einmal herkommen, sobald bessere Sicht herrschte.
„Wirklich“, sagte er und zeigte in die Richtung, in der die Stadt liegen mochte. „Ich konnte den Bay manchmal sehen, wenn ich mit meinen Freunden auf den Türmen stand.“
Rota versuchte, es sich vorzustellen, doch sie konnte nicht. Der Nebel auf dem Wasser schien in ihrem Kopf zu sein. Dabei wollte sie Ren Ima so gerne einmal sehen. Das Einzige, was hier fremd wirkte, waren die mächtigen Steinsäulen, die am Ende eines Holzstegs bis tief in den morastigen Boden reichten und die Grenze zum Meer bildeten.
„Das sind die Pfeiler der Brücke“, verkündete Juliano und ging zu einem von ihnen, um ihn zu umrunden.
„Dann ruf sie jetzt“, sagte Rota. Sie hatte das Gefühl, es sei nicht rechtens, dass sie hier war. Die Niambo ließen nur bestimmte Hada herkommen. Niemand hatte diese Regel bislang in Frage gestellt. Wozu auch? Niemand wollte die Blicke der gehässigen Lowa auf sich lenken.
„Ich habe das noch nie gemacht“, gab Juliano zu. Er kratzte sich am Bart. Rota begann sich zu fragen, ob er die Bhagaruma Lief überhaupt rufen konnte. Was sollte sie tun, falls sie den Petu auf diese Weise nicht zurückschicken konnten?
„Aber so schwer kann es nicht sein“, sagte er selbstsicher und strich über den Stein, als wäre die Säule ein Tier, das er beruhigen wollte. „Es ist eine Maschine. Sie braucht Energie, um die Mechanik zu bedienen.“ Scheinbar suchte er nach etwas. Neugierig blickte Rota an seinem Rücken vorbei. Über die Schulter schauen konnte sie ihm nicht, da er so groß war.
„Ich denke, es müsste ein Gegengewichtssystem sein. Hier irgendwo sollte ein Mechanismus … Ah.“ Erfreut deutete er auf einen Steinquader, der aus der einen Säule herausragte. Dann drückte er mit beiden Händen darauf und der Stein versank in der Säule, bis er eben auflag. Erst geschah nichts, doch Juliano schien keine Eile zu haben. Er sah einfach auf das Meer hinaus und wartete. Und dann verschlug es Rota die Sprache, als die Bhagaruma Lief erwachte. Wie die Wellenbewegungen eines mächtigen Sorpokörpers tauchten riesige Glieder aus den Tiefen des Ozeans auf. Das Wasser floss schäumend und weiß von den Körpersegmenten. Wenn sie innehielten, um sich dem Vorgänger in einer geraden Linie anzuschließen, bebte der Boden leicht unter Rotas Füßen. Dann lag er vor ihr, ein Pfad aus Stein, von grünen Algen beschichtet und mit Cul besetzt, wie die Schatztruhe eines Meereswesens.
Als ihr Staunen abklang, erschrak Rota. War das Beben bis zu den Hütten der Wateko zu spüren gewesen? Sie sah sich um, doch zwischen den Lagerhäusern war niemand zu sehen. Wahrscheinlich hatte sich die Erschütterung auf ein sehr kleines Gebiet beschränkt, so hoffte sie zumindest und blickte wieder zum Gebilde, das sich aus den Fluten erhoben hatte. Da fielen ihr die dunklen Metallstangen auf, die in den Boden eingelassen waren. Wie die Bhagaruma Lief selbst schienen sie endlos bis zum Horizont fortzulaufen.
„Das sind Schienen“, erklärte Juliano, der ihren Blick gesehen hatte. „Auf ihnen fahren die Treni, die uns die Waren von euch bringen.“
Bevor Rota fragen konnte, was Treni waren, ratterte eine hohe Kiste über die Brücke auf sie zu. Sie bestand aus einem rotgoldenen Metall, hatte eine Tür und Schlitze an der Seite. Langsam kam sie bei den Pfeilern zum Stehen. Juliano ging wie selbstverständlich darauf zu und öffnete die Tür. Er wartete, bis Rota vorsichtig einen Fuß auf den Stein der Bhagaruma Lief setzte. Der Boden war hart, glatt und rutschig. Sie wusste, dass es bloß Stein war, und doch hatte sie das Gefühl, die Brücke würde unter ihren Sohlen atmen. War die Bhagaruma Lief etwa selbst von einem Lowa bestiegen? Vielleicht war sie doch ein Geschöpf. Trotz aller Angst siegte Rotas Neugier. Sie wollte wissen, wie das Treniding von innen aussah. Doch als sie an Juliano vorbeispähte, war es bloß eine leere Kiste. Er stieg hinein und ließ sein Anzugbündel fallen. Das Treni war hoch genug, dass er in ihm stehen konnte. Mit sachtem Druck gegen eine Wand klappte er eine Platte hervor, die waagerecht einrastete. Rota trat näher, blieb aber an der Öffnung draußen stehen. Sie erkannte, dass es ein Sitz war, davon konnte er noch andere ausklappen.
„Ein wenig dunkel“, sagte er und zog an den Schlitzen herum, bis sich die Öffnungen vergrößerten. Das Metall schien einfach ineinandergeschoben werden zu können. „Viel besser.“
„Ich nehme an, für den Warentransport ist es sinnvoller, dass alle geschlossen und hochgeklappt sind.“
Er nickte und schien wieder zu staunen, wie schnell sie begriff. Seine Leute mussten wirklich eine schlechte Meinung über die Hada haben. Rota hätte gerne mehr Zeit gehabt, diese Ansichten zu ändern.
Juliano stieg wieder aus und ging zum hinteren Teil des Kastens. „Ah, und hier ist der Federmechanismus“, hörte sie ihn rufen. Hoffentlich trug seine Stimme nicht allzu weit.
Rota folgte ihm, beugte sich vor, um zu sehen, was er tat. Er hatte etwas aus der Wand aufgerichtet, das T-förmig war. Juliano drückte das Ding in die Seite des Treni, bis es ein Stück versank, und begann es zu drehen. Das Treniding schnurrte und vibrierte.
„Was machst du?“
„Ich ziehe es auf. Wie soll es mich denn sonst zurückfahren?“ Er sagte es, als wäre damit alles klar. Doch als er Rotas Gesicht sah, seufzte er nachsichtig. „Es ist eine Maschine. Mit dem Drehen des Schlüssels spanne ich die Feder. Sie gibt die Energie frei, die die Zahnräder bewegen wird. Diese wiederum bewegen die Räder und der Treni rollt über die Schienen zurück.“
Ob Rota auch so großspurig tun würde, wenn sie ihm etwas aus dem Bay erklärte, was er noch nie gesehen hatte? Sie verzieh ihm seinen Hochmut. Er war ein Petu und konnte vermutlich nicht anders.
Er klappte den Schlüssel wieder in die Wand. „Es kann nach Hause gehen.“ Dann wandte er sich Rota zu und zögerte. Irgendwas hielt ihn zurück. Er blickte sie an, als habe er noch unendlich viel zu sagen. „Ich, ähm …“
Auch Rota spürte einen Widerwillen, ihn ziehen zu lassen. Sie wollte noch so viel fragen. Doch sie mussten sich beeilen, wenn sein Besuch unbemerkt bleiben sollte. „Geh nach Hause, Juliano.“
Er schien enttäuscht, hatte wahrscheinlich das Gefühl, es wäre ihr gleich. Das war es mit Sicherheit nicht. Die Gewissheit, dass die Petu und Ren Ima kein Mythos waren, würde Rota nie wieder loslassen. All seine fremden Worte geisterten durch ihren Kopf wie Lowa und drängten sie, mehr zu erfahren. Und Juliano schien freundlich und interessiert zu sein. Rota fühlte, dass sie sich hätten ansantien können. Diese Gelegenheit loslassen zu müssen, schmerzte beinahe. Aus einem Impuls heraus griff sie nach seiner Hand, legte die Finger um die Kante und drückte leicht zu. Seine Haut fühlte sich warm und vertraut an. Er schloss seine Finger und erwiderte die Geste.
„Das hat alles verändert, oder?“ Er verzog unglücklich das Gesicht.
„Alles verändert sich fortwährend.“ Ihre Worte trösteten weder sie noch ihn, doch was blieb zu sagen oder zu tun? Sie ließen einander los und Rota spürte, wie sich in ihrem Inneren eine Leere auftat, die bisher nicht dort gewesen war.
Juliano stieg in das Treniding, blieb jedoch in der Tür stehen. „Ich denke, das ist eine andere Art der Veränderung als alles, was wir bisher kannten.“ Er klang dabei so verloren, wie Rota sich fühlte. Dann drückte er irgendwo drauf und der Kasten schnurrte in rasender Geschwindigkeit davon.
Sie behielt das Treniding im Blick, beobachtete, wie es kleiner wurde. Schließlich war es verschwunden und die Bhagaruma Lief leer. Das Wasser troff noch immer von ihrem mächtigen Leib herunter. Wie ein Tier schien sie zu atmen und ein schlagendes Herz zu besitzen.
Ehrfürchtig ging Rota langsam rückwärts, als könne sie jeden Moment von dem Wesen verschlungen werden. Als sie wieder Holz unter den Sohlen hatte, war es nicht nur Kummer, den sie spürte. Sie atmete erleichtert auf. Die Gefahr von gehässigen Lowa war gebannt.
Rota betrachtete die mächtigen Säulen. „Und wie lege ich dich wieder schlafen?“

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